Buch des Monats: Oktober 2021

Schmid, Konrad, u. Jens Schröter

Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften.

München: C. H. Beck Verlag 2019. 504 S. m. 48 Abb. u. 4 Ktn. Geb. EUR 32,00. ISBN 978-3-406-73946-0.

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Die zunehmende Ausdifferenzierung verschiedener literarkritischer Modelle bildet für Nichtfachleute ein hochkomplexes Feld, das schwer zugänglich und sperrig erscheint, und so bleibt mancher trotz großen Interesses an der Entstehung der Bibel mit vielen Fragen doch ratlos zurück. Welch Glück, dass man nun dieses Werk in Händen halten kann! Die beiden Autoren, der Zürcher Alttestamentler Konrad Schmid und der Berliner Neutestamentler Jens Schröter, haben ein Werk vorgelegt, das einen weiten Bogen spannt. Nach einem einleitenden Kapitel mit grundlegenden Informationen zu zentralen Begriffen (so u. a. »Tanak«, »Altes« bzw. »Neues Testament«, »Kanon«, »Apokryphen«, »Pseudepigraphen«) und zu textgeschicht¬lichen Aspekten der Überlieferung des Bibeltextes (Papyri, Manuskriptproduktion, Buchdruck; 9–69), folgen Ausführungen zur Schriftkultur und Literaturproduktion in der Königszeit Israels und Judas (10. bis 6. Jh. v. Chr.; 70–142), zu den biblischen Schriften in der babylonischen und persischen Zeit (6. bis 5. Jh. v. Chr., 143–186), zur Literatur und dem Schriftgebrauch im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit (3. Jh. v. Chr. bis 1. Jh. n. Chr.; 187–237), zu den Schriften des antiken Judentums im entstehenden Christentum (1./2. Jh.; 238–286), zur Formierung der christlichen Bibel und der Entstehung weiterer Traditionsliteratur (1. bis 4. Jh.; 287–356), sowie zur Formierung der jüdischen Bibel und der Entstehung von Mischna und Talmud (vom 1. bis 6. Jh.; 257–376). Ein Kapitel zur Wirkungsgeschichte der jüdischen und christlichen Bibel schließt den Band (377–412). So entsteht ein eindrückliches Szenarium, das zeigt, wie aus vielen einzelnen Elementen – kultischen königszeitlichen Psalmen, Gründungslegenden wie der Jakobsüberlieferung oder der Mose-Exodus-Erzählung, Rechtsüberlieferungen, der Weisheitsliteratur und einzelnen Prophetenworten – beginnend in der frühen Königszeit nach und nach ein breiter Strom von autoritativer Literatur entsteht, die – in unterschiedlichem Umfang und Akzentuierung – sowohl für das Judentum als auch das Christentum als »Heilige Schrift« gilt.
Da eine Zusammenfassung des reichen Materials, das die Autoren bieten, den Rahmen einer kurzen Besprechung bei Weitem sprengen würde, seien hier nur einige Schlaglichter genannt, die dieses Werk ganz besonders auszeichnen.
Von elementarer Bedeutung für das Verständnis der Entstehung der Bibel ist die materielle Seite der Schriftkultur. Der große kulturgeschichtliche Rahmen für diesen Prozess ist das Schreiberwesen in Israel und Juda. Einzelne frühe Schriftfunde werden vorgestellt (so u. a. der Bauernkalender von Gezer aus dem 10. Jh. v. Chr., die Bileam-Inschrift aus Tell Deir Allah aus dem 9. Jh. v. Chr. oder die Wandinschriften aus Kuntilet ´Ajrud, ebenfalls aus dem 9. Jh.), und es sind gerade die im vorliegenden Werk abgedruckten Abbildungen, die erahnen lassen, welche kulturgeschichtliche Leistung mit der Entwicklung der Schrift verbunden war. Da die Schriftzeugnisse aus dem königzeitlichen Israel einen relativ hohen Standardisierungsgrad aufweisen, kann angenommen werden, dass es dort wie auch in Juda Schreiberschulen gab, an denen Beamte und Priester ausgebildet wurden. Ihnen oblag die Aufgabe, das schriftlich niedergelegte Traditionswissen durch Abschriften für die nächsten Generationen zu bewahren; gleichzeitig konnten sie bestehende Überlieferungen auch ergänzen und weiterführen. Während man im alten Israel und im Judentum bis in die römische Zeit hinein auf Rollen schrieb (für liturgische Zusammenhänge gilt dies für die Tora und die Esterrolle bis heute), benutzten die Christen den Kodex. Gerade die äußere Form erweist sich dabei auch für die Rezeption des Schrifttums von elementarer Bedeutung: Kodizes waren in der Herstellung preiswerter und zudem in der Handhabung weitaus praktischer als Schriftrollen, und so konnten sie bei Gemeindeversammlungen und auf Missionsreisen viel einfacher eingesetzt werden als Rollen, die – vor allem wenn sie eine gewisse Länge aufwiesen – doch recht umständlich zu gebrauchen waren. Schwarzweißabbildungen – so vom Papyrus Bodmer mit dem Anfang des Johannesevangeliums (um 200 n. Chr.) oder eine Seite aus dem Codex Leningradensis, dem ältesten vollständig erhaltenen Manuskript der Hebräischen Bibel (1008 n. Chr.) – können diese text- und kulturgeschichtlichen Aspekte veranschaulichen.
Trotz aller Breite in der Darstellung – die Autoren setzen deutliche Akzente, die für die Religions- und Theologiegeschichte des Judentums sowie des Christentums von eine Schlüsselrolle einnehmen. Ein zentraler Vorgang bildet hier die sog. »Theologisierung des Rechts«. Durch die literarische Fiktion, wonach Rechtssätze von JHWH stammen und Mose offenbart wurden (so z. B. Ex 20,22–21,1), wird profanes Recht, das Teil einer breiten altorientalischen Rechtstradition ist, zu »Gottesrecht«. Diese Kontextualisierung älterer Rechtstraditionen bildet einen Vorgang, welcher der Hebräischen Bibel ein Alleinstellungsmerkmal zukommen lässt (135). Der Kern dieser Entwicklung ist im Deuteronomium zu greifen und führt ins 7. Jh. v. Chr., als die Assyrer die beherrschende Macht im Vorderen Orient darstellten. Das Deuteronomium ist das erste Buch im Rahmen der Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel, das sich als ein verbindlicher normativer Text präsentiert, in dem es mit allem Nachdruck die Beobachtung der göttlichen Gebote, die auf göttliche Offenbarung zurückgehen, einfordert. Die »Theologisierung des Rechts« hat ihre Grundlage darin, dass die Theologen der deuteronomischen Bewegung die Rolle des assyrischen Königs als eines Vertragsherrn, der seine Untertanen auf unbedingte Loyalität einschwören lässt, auf ihren Gott JHWH übertrugen. Wenn betont wird, dass es der Gott Israels ist, der von seinem Volk unbedingte Treue fordert, so handelt es sich letztlich um einen subversiven Akt, da damit der Anspruch des Assyrerkönigs auf ausschließliche Loyalität unterlaufen wird. Zu Recht wird betont, dass »die Ausbildung der Vorstellung vom Gottesrecht [...] geistesgeschichtlich kaum zu überschätzen« ist (138). Stammt das Recht von Gott selbst, so kommt ihm eine »grundlegend normative Qualität« (138) zu. »Solche Rechtssätze können nicht mehr einfach ersetzt oder abgetan werden« (139); sind sie nicht mehr zeitgemäß, so stehen ihre Tradenten vor der Herausforderung, den vorliegenden Gesetzesbestand durch Fortschreibungen zu reformulieren und an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Diese Vorgänge erfolgten viele Jahre innerhalb des vorgegeben Traditionsmaterials als Fortschreibung desselben; mit der zunehmenden Autorität der Texte verbieten sich aber solche Eingriffe in das Traditionsgut und so bildet dieser Prozess letztlich die Basis für die Entstehung einer reichen Kommentarliteratur. »Biblisch gesehen ist nicht das Gesetz an sich normativ, sondern das Gesetz und seine Auslegung. Mit anderen Worten: Die Dynamik der Auslegung ist bereits im Kanon selbst verankert und weist so über diesen hinaus. Ein zeitloses göttliches Gesetz gibt es in der Bibel nicht, auch und gerade das göttliche Gesetz bedarf der fortwährenden Aktualisierung« (141 f.). Eine solche Aufwertung des überlieferten Schrifttums bildet letztlich die Voraussetzung dafür, dass das Judentum von einer Kult- zu einer Buchreligion werden kann; auch der fortwährende Interpretationsprozess in Mischna und Talmud wird vor diesem Hintergrund verständlich.
Schließlich ist das vorliegende Werk auch im Hinblick auf den jüdisch-christlichen Dialog und die christliche Ökumene bedeutsam. Selbstverständlich hielten die frühen Christen an dem Bekenntnis zum Gott Israels fest und damit auch an den Schriften der Hebräischen Bibel, die das Handeln dieses einen Gottes an seinem Volk bezeugen. Diese Schriften dienten aber auch dazu, das Christuszeugnis zur Geltung zu bringen und in die Geschichte Gottes an seinem Volk einzutragen. Das Wirken Jesu und das Christusereignis wird auf der Basis des Zeugnisses der Hebräischen Bibel, insbesondere »mit Hilfe prophetischer Schriftstellen über Gottes heilvolles Handeln am Ende der Zeit interpretiert« (263). So bildet der Weg Jesu letztlich die Erfüllung der Schrift, in dem er als derjenige präsentiert wird, »durch den das in den Schriften angekündigte Heilshandeln Gottes zugunsten seines Volkes ins Werk gesetzt wird« (264). Damit werden die Schriften Israels »unter einem neuen Vorzeichen« (239) gelesen; sie erlangen auch für die Christen, die nicht aus Israel stammen, normative Geltung und werden zur verbindlichen Grundlage ihres Glaubens. Diese bekannten Zusammenhänge zur Entstehung des Neuen Testaments und seiner Hermeneutik werden in dem vorliegenden Band nun insofern kontextualisiert, als die Verfasser zeigen, dass dieser Prozess auch Auswirkungen auf Entwicklungen innerhalb des Judentums hatte. Für das Judentum bilden seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten die Mischna, Talmud und Midrasch wichtige Säulen seiner Identität, und spielen – wenngleich sie zum Teil auch auf der Auslegung der Hebräischen Bibel beruhen – eine weitaus größere Rolle als diese selbst. Es ist zu überlegen, ob dieser Prozess als eine Reaktion auf Formierung des Christentums und seiner Heiligen Schrift, der einen Bibel bestehend aus dem Alten und Neuen Testament, verstanden werden kann. An dieser Stelle eröffnet sich für die Leserschaft des vorliegenden Bandes der Bezug zum jüdisch-christlichen Dialog und zum Diskurs um den doppelten Ausgang der Hebräischen Bibel: Durch die Hebräische Bibel, die zunächst die Bibel Israels war, sind Juden und Christen sowohl eng miteinander verbunden als auch voneinander getrennt, und so zum Dialog aufgefordert.
In ökumenischer Hinsicht sind die Ausführungen zur Rolle der Bibel in der östlichen Theologie und Frömmigkeit bedeutsam. Während sich im Westen – letztlich vor dem Hintergrund von Reformation und Aufklärung – die historisch-kritische Methode als der bestimmende Interpretationszugang zu den biblischen Texten entwickelte und die hermeneutische Aneignung der Inhalte dann in einem zweiten Schritt zu erfolgen hat, zeichnet sich die östliche Frömmigkeit dadurch aus, dass sie der biblischen Tradition weitaus unmittelbarer begegnet. Im Zentrum der Glaubenspraxis steht die liturgische Anbetung und Verehrung des dreieinigen Gottes, der in Jesus Christus auf Erden sichtbar geworden ist. Die Verehrung von Ikonen, die über ihre Materialität auf eine dahinter liegende Transzendenz verweisen, erschließt diese göttliche Wirklichkeit in der konkreten Glaubenspraxis. Eine solche Perspektive kann, gerade in ihrer Fremdheit, für die distanzierte, historische Bibelauslegung durchaus anregend sein (vgl. 400 f.).
Dass nicht jeder Aspekt des komplexen Prozesses der Entstehung der Hebräischen Bibel im vorliegenden Rahmen in extenso dargelegt werden kann, liegt auf der Hand; gerade dies erleichtert die Lektüre für einen breiteren Leserkreis. Das Fachkollegium dagegen profitiert von dem Anmerkungsapparat sowie dem Literaturverzeichnis mit vielen interessanten Titeln, das auch die jüngste Forschungsliteratur berücksichtigt. Sehr hilfreich ist in diesem Kontext, wenn die einschlägigen bibliographischen Angaben den einzelnen Kapiteln zugeordnet werden. Ein ausführliches Register vermag zudem, die diversen Themen zu erschließen.
Als Fazit ist festzustellen, dass es den Autoren gelungen ist, die komplexen Prozesse der Entstehung der Bibel in einer klaren, anschaulichen und verständlichen Sprache darzustellen und in ihren historischen Bezügen sowie ihrer religions- und theologiegeschichtlichen Relevanz zu beleuchten. Das Buch vermag somit einer breiten Leserschaft wichtige Erkenntnisse der alt- und neutestamentlichen Fachexegese zu vermitteln und in ihren weitreichenden Bedeutungen zu erschließen.

Beate Ego (Bochum)

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