Buch des Monats: Mai 2013

Hrsg. v. Niklaus Peter, Frank Bestebreurtje und Anna Büsching.

Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern 1799/1806/1821.

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012. 308 S. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-290-17626-6.

Große Bücher verdienen gründliche Leser. Das gilt auch, wenn diese Bücher einen vergleichsweise bescheidenen Umfang haben wie Schleiermachers Über die Religion. Doch auch da gilt, dass man gründlich nur lesen kann, wenn die Textausgabe die genaue Lektüre ermöglicht und befördert. Das war bei Schleiermachers berühmtem Buch bisher nicht in zureichender Weise der Fall. In diesen Reden schrieb er am Ende des Aufklärungsjahrhunderts den gebildeten Religionsverächtern seiner Zeit ins Stammbuch, dass Religion weder schlechte Wissenschaft noch vernunftwidrige Moral sei, von der sich aufgeklärtes Denken nur abwenden könne, sondern eine „eigene Provinz im Gemüt“, der Ort der präreflexiven Weltwahrnehmung des Menschen, der sich auch im kritischen Gebrauch seiner Vernunft über seine eigene Endlichkeit und existenzielle Abhängigkeit nicht hinwegtäuschen dürfe. Hatte Kant in seinen drei Kritiken die Aufklärungsvernunft über ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen aufgeklärt, so klärt Schleiermacher die Vernunftkritiker der Religion darüber auf, dass sie in ihren eigenen Vorurteilen verfangen bleiben, wenn sie meinen, die Religion als überflüssige Vor- und Fehlformen von Metaphysik und Moral abtun zu können, anstatt sie in ihrer eigentümlichen Selbständigkeit als Ort, Ausdruck und Gestaltung der Endlichkeitserfahrung des Menschen zu begreifen.
Dreimal hat Schleiermacher seine Reden im Lauf seines Lebens publiziert: 1799, 1806 und 1821. Mit jeder Auflage wurde der Text gründlich überarbeitet und mannigfach verändert, um ihn den Erfordernissen der veränderten zeitgenössischen Diskussionslagen und der Fortentwicklung von Schleiermachers eigenem Denken anzupassen. Von Anfang an galt es Missverständnisse und Fehllektüren zu korrigieren, Vorwürfe wie den nicht enden wollenden Spinozismusverdacht auszuräumen, das in der Jugend Geschriebene im Licht von später Gedachtem und neuen Herausforderungen zu präzisieren und zu vertiefen. Kein anderes Buch dokumentiert in der Folge seiner Auflagen Schleiermachers theologischen und philosophischen Denkweg so eindrücklich wie dieses. Bei aller Kontinuität in Ansatz und Argumentationsgang treten die Veränderungen deutlich in Erscheinung. Aus der rhetorisch mitreißenden Streitschrift des dreißigjährigen Predigers an der Charité in der 1. Auflage wurde in der 2. und dann vor allem der 3. Auflage durch kommentierende Zusätze und Zurücknahme der Rhetorik die abwägend argumentierende Abhandlung des Berliner Theologieprofessors, der nicht mehr primär die gebildeten Religionsverächter der Aufklärung und Frühromantik, sondern die frömmelnden Erweckungschristen und doktrinären Buchstabenknechte der Restaurationszeit in den Blick nimmt. In beiden Formen hat die Schrift gewirkt und in ihren verschiedenen Auflagen wie kein anderes Buch nicht nur die sich ausbildende liberale Theologie des 19. Jahrhunderts, sondern, in Zustimmung und Widerspruch, das theologische und religionsphilosophische Denken im 19. und 20. Jahrhundert insgesamt maßgeblich mitbestimmt.
Doch braucht es noch eine weitere Ausgabe dieses frühromantischen Kultbuchs? Seit längerem liegen die Reden in den Bänden der Kritischen Gesamtausgabe in mustergültigen historisch-kritischen Editionen vor. Die Herausgeber hatten sich aber entschieden, sie an verschiedenen Orten zu veröffentlichen. So findet sich die 1. Auflage der Reden in KGA I/2, während in KGA I/12 die 2.-4. Auflage auf der Textbasis der letzten Auflage publiziert wurde. Dort kann man zwar aufgrund des vollständigen Variantenapparats die Textversionen der 2. und 3. Auflage rekonstruieren. Aber der Vergleich mit der ersten Auflage ist nur möglich, wenn man beide Bände der KGA nebeneinander legt. Die vorliegende, von Niklaus Peter, Frank Bestebreurtje und Anna Büsching besorgte Ausgabe bietet demgegenüber die Texte der ersten drei Auflagen in einem Band. Zum ersten Mal seit Pünjers Edition von 1879 lassen sich damit alle drei Auflagen der Reden, auf der Textbasis ihrer kritischen Edition in der KGA, synoptisch lesen. Der Ausgabe liegt der Text der ersten Auflage zugrunde, in den die Veränderungen der 2. und der 3. Auflage fortlaufend eingefügt sind. Eine leserfreundliche Textgestaltung und Typographie, behutsame Angleichung der Orthographie, pragmatisch gehandhabte Zweispaltigkeit, wo längere Textvarianten geboten werden, und ein übersichtlicher Fußnotenapparat haben ein exzellentes Hilfsmittel für eine gründliche Lektüre und Auseinandersetzung mit diesem Grundtext der theologischen Moderne geschaffen. Eine detaillierte Einleitung, die über das Anliegen der Reden und die Prinzipien der Edition informiert, sowie ein Register, in dem die wichtigsten Begriffe und Namen aufgeführt werden, runden den gelungenen Band ab.
Damit liegt eine Edition vor, die es verdient, zum Standardtext der Beschäftigung mit Schleiermachers Reden in der akademischen Lehre und im eigenen Studium zu werden. Sie nötigt die Leser auf unaufdringliche, aber unnachgiebige Weise zur langsamen Lektüre, und das ist nicht nur bei diesem Text ein Gewinn. Vor allem aber bietet sie alles, wessen es bedarf, um selbst zum Nachdenken über Religion, Vernunft, Moral, Kirche und Leben gebracht zu werden. Wer dieses Buch zur Hand nimmt und liest, wird sich über die Oberflächlichkeit und Überholtheit mancher religionskritischen Debatten in der Gegenwart noch mehr wundern.

Ingolf. U. Dalferth (Zürich/Claremont)

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