Buch des Monats: Juli/August 2012

Marzillo, Patrizia

Der Kommentar des Proklos zu Hesiods „Werken und Tagen“. Edition, Übersetzung und Erläuterung der Fragmente.

Narr Francke Attempto: Tübingen 2010. LXXXVIII, 458 S. m. 5 Abb. = Classica Monacensia, 33. Kart. EUR 88,00. ISBN 978-3-8233-6353-8

Wer war Proklos? Warum einen antiken Kommentar zu Hesiod lesen, der noch dazu nur in Fragmenten überliefert ist? Nicht vielleicht erst einmal Hesiod zur Hand nehmen? Natürlich kann man nur bewundern, dass die junge, derzeit in Jerusalem forschende italienische klassische Philologin Patrizia Marzillo aus diversen Scholien-Ausgaben und Handschriften 283 kürzere wie längere Fragmente eines spätantiken Kommentars wiedergewonnen hat (zwanzig davon sind unsicher), den der neuplatonische Philosoph Proklos im fünften Jahrhundert zu einem Jahrhunderte älteren Lehrgedicht schrieb. Alles, was eine feine Edition charakterisiert, findet sich in diesem in vielfacher Hinsicht gewichtigen Buch: Eine verständliche Einleitung, mustergültige Edition mit Apparat (in enger Anlehnung an die Ausgabe von Pertusi) und feiner, textnaher deutscher Übersetzung, knappe, aber vollkommen ausreichende Kommentierung sowie umfangreiche Indices.
Dieses Buch ist auch für Leserinnen und Leser einer Theologischen Literaturzeitung (und nicht nur für die, die in den klassischen Altertumswissenschaften involviert sind) von Interesse. Inzwischen hat sich zwar herumgesprochen, dass die antiken christlichen Autoren sich bei der Kommentierung der Bibel an der zeitgenössischen Kommentarpraxis orientierten und beispielsweise ein Origenes auf der Höhe der Literaturwissenschaft seiner Zeit kommentierte. Aber viel zu wenig wird der direkte Vergleich gesucht. Dabei ist besonders der Vergleich mit der Kommentierung der Dichter Homer und Hesiod bei neuplatonischen Philosophen lehrreich: Die Kommentierung des Proklos ist, wie die des Origenes, von der Allegorese geprägt. Auf diese Weise konnten die Schüler Platons (Proklos leitete zeitweilig die Athener Akademie) mit der platonischen Dichterkritik umgehen. Frau Marzillo trägt dankenswerterweise in ihrer Einleitung zusammen, was man aus anderen Schriften des Proklos über die Dichtungstheorie des Philosophen wissen kann (XXII-XXVI). Trotzdem achtete Proklos auf den Literalsinn des Textes (wieder wie Origenes) und erklärte ihn mit aller philologischen Sorgfalt. Obwohl er nicht die „theologischere“ Theogonie Hesiods, sondern dessen Erga kommentiert, bezieht der Athener Philosoph den Text des Dichters auf grundlegende Themen seiner Philosophie, beispielsweise die Prinzipientheorie. Interessant sind auch die Passagen über die Dämonologie (im Kommentar zu Erga 248-255; Fragmente 109-111). Das Interesse der Neuplatoniker an den Dichtern erklärt sich auch aus antichristlichen Motiven: Mit der Kommentierung konnte gezeigt werden, dass entgegen der christlichen Polemik nicht Moses, sondern diese Dichter die ersten und grundlegenden Autoritäten waren.
Da der Kommentar des Proklos offenkundig einführenden Charakter hatte (hier hätte die Kommentierung der Autorin etwas präziser sein können) und seine Reste von Frau Marzillo mustergültig erschlossen worden sind, eignet er sich hervorragend zur Einführung auch für die, die den großen paganen neuplatonischen Philosophen und seine Philosophie kennenlernen wollen.

Christoph Markschies (Berlin)

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