Buch des Monats: Juli/August 2021

Hubert Irsigler

Gottesbilder des Alten Testaments. Von Israels Anfängen bis zum Ende der exilischen Epoche. Teilband 1–2.

Herder Freiburg/Basel/Wien 2021. XVI + 1378 S. Geb. 158,00 €. PDF e-book 158,00 €. 23,5 x 15,5 cm. ISBN: 978-3-451-38345-8. ISBN e-book: 978-3-451-83345-8.

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Die ersten beiden Teilbände des umfangreichen Werkes zu den »Gottesbildern des Alten Testaments« aus der Feder des emeritierten Freiburger Alttestamentlers Hubert Irsigler sind eindrucksvoll. Das betrifft vor allem die Ausführlichkeit und Anschaulichkeit der Darstellung. Auf fast 1400 Seiten entfaltet Irsigler, jeweils von exegetischen Textpräsentationen ausgehend, nicht weniger als den bisher umfassendsten Überblick zu den Gottesvorstellungen der hebräischen Bibel. Nach dem einführenden Kapitel, das über hermeneutische und methodische Grundlagen informiert, wird von den Gründungstraditionen Israels im Pentateuch (Erzeltern, Exodus, Sinai) bis zum Ende des Exils (Deuterojesaja und Priesterschrift) die Entwicklung der Gotteskonzepte nachgezeichnet. Wie es die Vorbemerkungen und der Gesamtplan zeigen (vgl. S. 4 und 52), wird sich der zweite Teil des Werkes der nachexilischen Periode widmen und vom Bau des zweiten Tempels bis zu den (deuterokanonischen) Spätschriften die Gottesbilder des frühen Judentums präsentieren, wie sie aus dem »Durchbruch« zum Monotheismus (1071ff.) hervorgingen. Auch sie fallen keineswegs einheitlich aus, sondern verlangen nach einer differenzierten und präzisen Beschreibung.
Das bisher Vorliegende ist ein »Zwitter« zwischen einer »Theologie des Alten Testaments« und einem Kompendium alttestamentlicher Traditionsentwicklung über den Gott JHWH. Dabei erscheint es für die Gesamtabsicht aufschlussreich, dass Irsigler die Nähe zu älteren und neueren Entwürfen einer »Theologie des AT« deutlich markiert (vgl. S. 29–39), zugleich aber auf einen solchen Titel für seine eigene Darstellung verzichtet. Gleichwohl handelt es sich – ähnlich wie beim 2015 erschienenen opus magnum von Jörg Jeremias (ThLZ Buch des Monats 11/2016) – um die Summe einer exegetischen Lebensarbeit.
Viel deutlicher als Einzelveröffentlichungen zeigen Irsiglers »Gottesbilder« die theologischen Grundanliegen seines Verfassers. Dazu sei ein Überblick anhand des Einleitungskapitels (19ff.) gegeben: Das Werk ist von der Überzeugung geleitet, dass die heutige Situation einer Gesellschaft, in der neuer Atheismus, religiöser Pluralismus und der Relevanzverlust christlicher Werte Hand in Hand gehen, nach einer Besinnung auf die tragenden Grundlagen des Christentums verlangt. Sein Werk will dazu einen Beitrag leisten, der auch Argumente katholischer (Fundamental-)Theologie auf die Erfassung des Eigensinns der biblischen Texte anwendet. Grundsätzlich geht Irsigler davon aus, dass Gottesbilder transkulturell wirksam waren und sind, weil sie menschliches Handeln zum Guten wie zum Schlechten antreiben (22f.). Selbstverständlicher als viele Versuche protestantischer Exegetinnen und Exegeten ist seine Hermeneutik auch von der Frage geleitet, wie sich biblische Gottesaussagen zur von ihnen angezielten »Sache«, dem sich offenbarenden und zugleich entziehenden Gott, verhalten. Dafür folgt er dem klassischen Analogiegedanken mit seinen Facetten der Entsprechung bei gleichzeitiger Unangemessenheit menschlicher Rede von Gott und betont besonders die Tendenz zur »Überschreitung« im Blick auf das Nichtsagbare (zur »Seinsanalogie« S. 41, zur Relevanz einer theologia negativa S. 43). Genau so wird einsichtig auch das alttestamentliche Bilderverbot verstanden, dessen exegetisch-hermeneutische Paraphrase als aus der Bibel selbst entnommenes Grundsatzprogramm den Einleitungsteil beschließt (67–84).
Das in Anschlag gebrachte »Bild«-Verständnis folgt etablierten Metapherntheorien (v.a. Paul Ricœur und Max Black) im Blick auf eine wechselseitige kreative Interaktion des metaphorischen Sinns, der nicht am Einzelausdruck, sondern nur in der Interpretation eines Kontextes entsteht und gedeutet werden kann. Die Überbrückung zwischen den biblischen Zeugnissen und heutigen Rezipienten sieht Irsigler jeweils durch Erfahrungen des »Transzendenten« ermöglicht, die sich historisch different artikulieren, aber durch den Gebrauch der Texte bis heute unlöslich aufeinander bezogen bleiben. Für die adäquate Erfassung der biblischen Gottesmetaphern verweist er außerdem auf die Differenz zwischen bewusstem und unbewusstem Gebrauch von Sprach- bzw. Textbildern (46–49). Gerade hier kommt es in der alttestamentlichen Traditions- und Theologieentwicklung zur Re- und Neuvitalisierung von älterem Material. Zuletzt gilt das auch für das Wort »Gott« in unserer heutigen Sprache, das Irsigler als unbewusste Metapher ansieht (wobei immer auch der »Ableitungsaspekt«, also etymologische Unbewusstheit, wesentlich ist, S. 48). Hermeneutisch entscheidend ist für ihn, dass das Wort »Gott« – wie auch die meisten der behandelten bildhaften Ausdrücke für den hebräischen JHWH – trotz seiner Konventionalität »notwendig« ist, weil kein anderes Wort »dieselbe gemeinte Wirklichkeit« bezeichnet (ebd.). Für das vorliegende Werk lässt sich also resümieren, dass es an einer ontologischen Referenz der Gottesmetaphern festhält, die – das sei angemerkt – viel enger gefasst wird, als dies z.B. bei Ricœur der Fall ist.
Die eigentliche Darstellung der alttestamentlichen Texte wird freilich von dieser Festlegung nicht betroffen. Der Zugang zu den biblischen Inhalten ist sehr differenziert auf deren Vielfältigkeit in synchroner wie in diachroner Perspektive fokussiert. Zugleich liegt dem Autor ausdrücklich an der Suche nach Ganzheit bzw. Einheit der verschiedenen Gottesvorstellungen. Das zeigt sich in der Unterscheidung zwischen »Gottesverständnis« (Singular) und »Gottesvorstellungen« bzw. »-bildern« (Plural) (49f.): Neben der Vielfalt kann es eine »mehr oder weniger strukturierte bzw. graduell offene intentionale Gesamtheit« der biblischen Gottesvorstellungen geben (49). Dies zeichnet Irsigler dann im Durchgang durch die Traditions- und Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur exilischen Epoche in sechs Kapiteln nach (ein Beispiel für eine solche Ganzheitsfigur ist die mehrere Gottesbilder umfassende und strukturierende Vorstellung von JHWH als König). Die angenommene Einheit hinter je unterschiedlichen konkreten »Ausdrucksformen« kann nur aus diesen selbst rekonstruiert werden. Das geschieht in einer historischen Perspektive, die auf den kanonisch überlieferten Text (des LXX-Kanons) als Grundlage bezogen bleibt; außerbiblisches Quellenmaterial kommt gelegentlich zur Sprache. Beeindruckend ist die Menge der verarbeiteten Literatur.
Für die kontrovers diskutierten Fragen der Entstehung und Datierung des Pentateuch folgt Irsigler einer Variante der neueren Urkundenhypothese, bei der er – trotz vorherrschender anderer Auffassung – auch mit »elohistisch« geprägten Texten im 8./7. Jh. v.Chr. rechnet (89–91). Diese konservative Ansetzung führt, wie auch im Bereich der Schriftprophetie, zur vorexilischen Einordnung mancher heute oft später datierter Texte (Ex 3; Nah u.a.). Entsprechend reichhaltig fällt das Tableau wesentlicher Gottesaussagen bereits in staatlicher Zeit aus (Dekalog, Schöpfung, JHWH-Alleinverehrung, sog. »Gnadenformel« u.a.). In dieser Hinsicht bilden Irsiglers »Gottesbilder« auch ältere Forschungskonsense ab.
Der große Wert des Kompendiums liegt darin, dass es Interessierte detailgenau über die prägenden Gottesvorstellungen des AT informiert und diese eingehend für eine Rezeption in anderen Zusammenhängen aufbereitet. Dazu ist auf die je für sich gut lesbaren detaillierten materialen Kapitel, Abschnitte und Exkurse zu verweisen, die über ein Bibelstellenregister erschlossen sind (ein Sachregister wird hoffentlich Teil 2 beigegeben werden). Irsigler legt schließlich besonderen Wert auf die wichtige Beobachtung, dass in biblischen Neuformulierungen älterer Gottesbilder diese nicht unkenntlich gemacht werden, sondern weiterhin präsent bleiben. Das Fazit des vorliegenden Werkes lautet entsprechend: »Gott kann sich selber ›überschreiten‹, ohne dass die jeweilige Ausgangsbasis des Überschreitungsweges ausgelöscht würde. Wohl aber wird sie in ihrer Bedeutsamkeit für biblisches Gottesverständnis als zeit- und situationsgebunden eingeschränkt, begrenzt und auf weitere Erkenntnis in der Gott-Rede der Bibel hin geöffnet. Gleichwohl führt erst die Fülle und Weite der Gottesbilder an das unauslotbare Geheimnis Gottes heran, der verborgener Gott bleibt und sich doch schöpferisch, rettend und heilbringend für Mensch und Welt immer neu Hoffnung zeugend kundgetan hat.« (1349). Die »Gottesbilder des Alten Testaments« werden sich sicherlich als ein unentbehrliches Lese- und Nachschlagewerk für alle etablieren, die sich vom ersten Eindruck des großen Umfangs, der dem Gegenstand in jedem Fall angemessen ist, nicht an einer vertieften Lektüre hindern lassen.

Friedhelm Hartenstein (München)

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