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Ausgabe:

1983

Spalte:

635-636

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Rebell, Walter

Titel/Untertitel:

Paulus- Apostel im Spannungsfeld sozialer Beziehungen 1983

Rezensent:

Rebell, Walter

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635

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 8

636

Kairos, in dem sich die Ablösung des „dämonischen" kapitalistischen
Systems durch eine neue, sinnerfüllte, religiös-sozialistische Gesellschaft
ankündigt. Die Überwindung der kapitalistischen wie der
nationalsozialistischen Ideologien erhofft er sich von einem zu seiner
religiösen Tiefe geführten Proletariat.

Die expliziten wie impliziten Äußerungen des späten Tillich zum
Ideologieproblem lassen eine weitgehende Übereinstimmung mit
ihrer frühen Form erkennen. Anders als beim frühen Tillich enthält
jedoch nun die Ideologiekritik weder die Forderung des Klassenkampfs
auf der Seite des Proletariats noch die These vom Proletariat
als dem Träger der Ideologiekritik. „Richtiges Bewußtsein" erkennt
der späte Tillich der Gemeinschaft der vom göttlichen Geist Ergriffenen
(der „Geistgemeinschaft") zu. Diese bleibt jedoch eine - im Vergleich
zum Proletariat - sehr unscharf bezeichnete Größe; auch ein
genauer ausgeführtes Modell ideologiekritischen Handelns fehlt.
Daher wird im Anschluß auf Erich Fromm verwiesen, der genaue
Modelle einer Ideologiekritik schildert, die nicht bloß theoretisch
erdacht, sondern auch in jüngster Zeit praktisch vollzogen worden
sind. Dennoch zeigt sich, was die theologische Relevanz der Ideologiekritik
, die Auflösung von Ideologiebildungen innerhalb der Ideologiekritik
und das Gewinnen ideologiekritischer Zielvorstellungen
betrifft, die Aktualität des Tillichschen Konzepts und seine Fruchtbarkeit
für die heutige politisch-theologische Diskussion.

Rebell, Walter: Paulus - Apostel im Spannungsfeld sozialer Beziehungen
. Eine sozialpsychologische Untersuchung zum Verhältnis
des Paulus zu Jerusalem, seinen Mitarbeitern und Gemeinden.
Diss. Bochum 1982. 219 S.

Das soziale Beziehungsgeflecht des Paulus ist der exegetischen Forschung
eminent wichtig und wird häufig und unter verschiedenen
Gesichtspunkten thematisiert, so vor allem von Arbeiten zur Biographie
und Chronologie des Paulus sowie zum Themenbereich Amt,
Apostolat, Autorität und Gemeinde. Bislang wurde den sozialen
Beziehungen des Paulus ein Interesse an und für sich freilich nicht
ausreichend gewidmet. Wo sie thematisiert wurden, bestimmte ein
„eigentlich theologisches Interesse" den Gang der Untersuchung, und
nur in engem funktionalen Zusammenhang mit theologischen Fragen
kamen relationale Sachverhalte zur Sprache. Es ist daher längst überfällig
, diesen eine eigene Untersuchung zu widmen.

Gearbeitet wird mit dem methodischen Instrumentarium der
Sozialpsychologie, mit einem Ensemble von Konzepten, das sich aus
den heuristischen Vorüberlegungen ergibt, welche psychologischen
Konzepte und welche Paulus-Texte sich aufeinander beziehen lassen;
im einzelnen handelt es sich um die Theorie der kognitiven Balance
(Heider), die Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger), Watz-
lawicks Theorien zur Kommunikation und Interaktion, Forschungsergebnisse
aus der Attitüden- und Führungsforschung, die Theorie der
psychologischen Reaktanz, das Konzept der Reziprozität, die Machttypologie
von French/Raven und das Konzept des double bind. Ein
solcher stringent sozialpsychologischer Zugang zu Paulus knüpft an
sozialwissenschaftliche Versuche der Paulus-Exegese in jüngerer Zeit
an (B. Holmberg, W. A. Meeks, J. H. Schütz, G. Theißen), von denen
er sich freilich methodisch auch unterscheidet. Die Einfügung des vorgelegten
Ansatzes einerseits in den neueren sozialwissenschaftlich
bestimmten Forschungsweg sowie die Abgrenzung andererseits von
soziologisch und persönlichkeitspsychologisch bestimmten Analysen
älterer Art (so z. B. bei F. Ch. Baur, W. Bousset, M. Dibelius) wird im
Einleitungsteil vorgenommen, wo auch die Strukturierung des Untersuchungsganges
vorgestellt und begründet wird und grundsätzliche
Überlegungen zur Legitimität der angewandten Methodik vorgenommen
werden.

Eine Grobgliederung der Untersuchung geschieht nach „inhaltlichen
" Gesichtspunkten, jedoch nicht der paulinischen Chronologie
entsprechend, sondern - der Aufgabenstellung angemessener - nach
Beziehungsfeldern. Das Beziehungsgeflecht des Paulus läßt sich dreifach
untergliedern, wodurch sich für die Arbeit drei Hauptteile ergeben
; Paulus und die Jerusalemer Autoritäten; Paulus und seine Mitarbeiter
; Paulus und seine Gemeinden. (Einem vierten Beziehungsfeld
„Paulus und seine Gegner" wird keine besondere Untersuchung
zuteil, da hierfür keine direkten Informationen über Interaktionen
vorliegen.)

Im e_rsten Hauptteil wird zunächst die ambivalente, konflikthafte
Beziehung des Paulus zu Jerusalem durch die kognitive Balancetheorie
kausal über das grundsätzlich instabile Beziehungssystem „Paulus
- Jerusalemer Urgemeinde - jüdisches Gesetz" aufgeklärt, gleichsam
die Zwangsläufigkeit konflikthafter Interaktionen zwischen Paulus
und den Jerusalemer Autoritäten (vgl. z. B. Gal 2,11-14) aufgewiesen.
Analysen mit Hilfe der Theorien Watzlawicks erhärten diesen
Befund. Der letzte Jerusalembesuch des Paulus wird sozialpsychologisch
als Kontaklaufnahme zum Abbau von Vorurteilen begriffen,
wobei eine Analyse der Kontaktsituation ergibt, warum die Kontaktaufnahme
nicht den erhofften Erfolg bringen konnte. Schließlich
wird über die kognitive Dissonanztheorie eine wechselseitig kontin-
gente Interaktionssequenz zwischen Paulus und den Jerusalemern
herausgearbeitet, d. h. Handlungen und Verhaltensweisen werden
jeweils kausal auf Aktivitäten der Gegenseite bezogen. An die Stelle
einer statischen Beschreibung, einer Aneinanderreihung der Interaktionen
, die zwischen Paulus und Jerusalem über die Wirkungszeit
des Paulus hinweg stattfanden, tritt hier die Einsicht, daß ein einziges
dynamisches Geschehen vorliegt, daß man sich - als innere Konsequenz
der Gegensätzlichkeit der theologischen Entwürfe - gegenseitig
vorwärtstrieb bis zu jenem letzten Besuch des Paulus in Jerusalem, der
den Anfang seines Endes bedeutete.

Im zweiten Hauptteil werden in einem ersten Durchgang die Beziehungen
zwischen Paulus und seinen Mitarbeitern in die Kategorien
„symmetrisch/komplementär" eingeordnet. Auf diese Weise können
die Kausalfaktoren für den Konflikt zwischen Paulus und Barnabas
schärfer als bisher erfaßt werden, kann - über einen angenommenen
Wechsel der Beziehungsform - das auffallend verschiedene Bild von
Titus in verschiedenen paulinischen Texten verständlich gemacht
werden. An der dauerhaften komplementären Beziehung zwischen
Paulus und Timotheus muß Kritik angebracht werden. Dem Verhältnis
zwischen Paulus und Apollos kann aufgrund der ausführlicheren
Textgrundlage tiefer nachgegangen werden, balancetheoretische Analysen
der Beziehungssysteme „Paulus - Aquila und Prisca - Apollos"
und „Paulus - Apollos - Weisheit" sind möglich, eine kommunikationstheoretische
Exegese des mit Beziehungsfragen gesättigten Textes
1 Kor 3,4-15 wird vorgelegt und schließlich IKor 16,12 sozialpsychologisch
analysiert. Am Beispiel der paulinischen Autorität wird die
Auseinandersetzung mit einem exegetischen Verständnis geführt, das
die „rein menschliche Seite" des Apostels als gültige Analyseebene
nicht sieht.

Analysen zu den Beziehungen zwischen Paulus und seinen
Gemeinden runden die Arbeit ab. Nachdrücklich wird der
Beziehungsaspekt in den paulinischen Briefen betont, und sie werden
auf cues (Hinweiszeichen) untersucht, die in theologisch-diskursiven
und paränetischen Kontexten die stets mit-ausgedrückten Beziehungen
kennzeichnen. Eine paradoxe Doppelverpflichtung der paulinischen
Gemeinden aufbleibenden Gehorsam und auf Selbständigkeit
wird herausgearbeitet. Insgesamt ist zu beachten, daß Konflikte
zwischen Paulus und seinen Gemeinden nicht nur auf die Alternative
Gehorsam/Ungehorsam der Gemeinden zurückzuführen sind, sondern
nicht-wertend auch auf psychologisch beschreibbare Kausalfaktoren
zu befragen sind.