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Ausgabe:

1983

Spalte:

600-603

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kaiser, Jochen-Christoph

Titel/Untertitel:

Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik 1983

Rezensent:

Nowak, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 8

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des Verfluchten und die Aufhebung des Fluches, ja sogar die Sühne für
eine beleidigte Gottheit.

Der Vf. führt uns durch die ihm vertrauten Felder der griechischen
und römischen Antike (S. 43-108), der orientalischen und jüdischen
Welt (S. 109-119) und des frühen Christentums (S. 120-179). Die
Interessenschwerpunkte lassen sich an den Proportionen erkennen:
Rom und die Alte Kirche. Was sich an Eindrücken nach der Lektüre
dieser materialgesättigten und mit vielen Quellenverweisen unterkellerten
Arbeit wiedergeben läßt, muß notwendigerweise fragmentarisch
sein.

Von Griechenland, der Wiege von Kultur und Aufklärung, geht
nicht nur die Tradition der Buchherstellung und -Verbreitung aus,
sondern auch die der Büchervernichtung durch den Staat, wie sie etwa
Protagoras und Epikur betraf; unvergessen sollte bleiben, daß es die
am griechischen Herrschertum sich orientierenden Seleukiden waren,
die in Judäa die große Bücherverbrennung anordneten (IMakk
l,59f). In Rom, wo, wie der Vf. zeigt, ein magischer Namenglaube,
aber auch der Kampf gegen östliche Kulte und die Astrologie das Verhalten
des Staates gegenüber der Verbreitung des geschriebenen Wortes
bestimmte, erscheint die Bücherzensur am stärksten eingebettet in
die Innenpolitik, vor allem in der Kaiserzeit. Wichtig ist, daß erst
Diokletian wirklich erkennt, daß die Bücher (des Neuen und Alten
Testaments) die Lebensgrundlage der Christen darstellen und deshalb
sie zu vernichten sucht, so daß Christenverfolgung und Büchervernichtung
zusammengehen (S. 76-79). Daß neben der staatlich
angeordneten Beseitigung auch die durch den Verfasser selbst (etwa
als Folge einer Bekehrung) oder von anderer privater Hand (Angehörige
, andere Autoren, durch gelehrte Kritiker wegen angeblicher
Unechtheit, durch Sittenrichter) treten kann (S. 89-108), rundet das
Bild einer weitgefächerten und wirksamen Zensur des Geistes ab.

Knapp gehalten ist der Durchblick durch den alttestamentlich-
jüdischen Bereich mit ganz gelegentlichen orientalistischen Streiflichtern
. Schwerpunkte sind hier die Kanonisierung und die Ausschaltung
der apokalyptischen Literatur. Die jüdischen Büchergräber wurden
bereits S. 27f kurz gestreift; hier, wo man es erwartet, werden die
Kairoer Genisa, aber auch die Thesen und Hypothesen um die Handschriftenfunde
von Qumran keiner Erwähnung gewürdigt. Unberücksichtigt
bleibt auch die Auseinandersetzung um die mystische Geheimtradition
und ihren literarischen Niederschlag.

Daß die konstantinische Wende die zuvor Verfolgten zu Verfolgern
macht, läßt sich auf manchen Gebieten zeigen. Die große Büchervernichtung
unter Valens (Amm. Marc. 29,1,5) in den Jahren 371/372
wird mit Recht hervorgehoben (S. 1310- Als Zielgebiet gelten
zunächst Zauberbücher und astrologische Literatur, aber auch antichristliche
Schriften wie die des Celsus und Porphyrios. Die magisch-
dämonologische Wertung des geschriebenen Wortes bestimmte bald
auch das Vorgehen gegen die Zeugnisse des „inneren Feindes". „Vom
Anfang des vierten Jahrhunderts an bis in die Neuzeit haben Scheiterhaufen
gebrannt, die aus Schriften von Häretikern bestanden."
(S. 143) Die Reihe der vom Vf. aus den Quellen belegten Bücherverbrennungen
ist lang und umfaßt alle klassischen Häresien: Mani-
chäer, Montanisten, chiliastische Häretiker, Origenisten, Arianer,
Apollinaristen, Eutychianer, Monophysiten, Priscillianisten, Pela-
gianer und Novatianer.

Zu Recht weist der Autor daraufhin, daß die Bekämpfung jüdischer
Schriften von christlicher Seite sich zunächst und vor allem gegen
Pseudepigraphen richtet, seit Justinian auch gegen die Midraschim als
unerwünschte Konkurrenten der eigenen Bibelauslegung; der Vernichtungskampf
gegen den Talmud gehört erst dem Hochmittelalter
und der neueren Zeit zu (S. 161-164). Daß der Wandel des Zeitgeistes
eine stille Zensur ausübt, ist oft konstatiert worden, daß in Situationen
geistigen Umbruchs auch der literarische Niederschlag der überwunden
geglaubten Epoche der Vernichtung anheimgegeben wird, schafft
für den späteren Historiker (und nicht nur für ihn) ein schmerzliches
Defizit. Nur mit einem knappen Satz (S. 24) erwähnt der Vf. den Umstand
, daß die große geistige Umwälzung, der Sieg der Reichskirche,

zeitlich zusammenfiel mit dem Abschied vom Papyrus und dem
Übergang zum Pergament. Die stille Zensur, die dabei an den Schriften
der Heiden und Häretiker geübt wurde, der gewiß auch so manche
apokryphe und pseudepigraphe Schrift zum Opfer fiel, kann schwerlich
überschätzt werden.

Halle (Saale) Wolfgang Wiefel

Egerie: Journal du Voyage (Itineraire). Introduction, Texte critique,
Traduction, Notes, Index et Cartes par Pierre Narval. Valerius du
Bierzo: Lettre sur la Bsc Egerie. Introduction, Texte'et Traduction
par M. C. Diaz y Diaz. Paris: Ed. du Cerf 1982. 400 S. 8' = Sources
Chretiennes, 296. Kart, ffr 297.-.

Unter der Bezeichnung Peregrinatio Aetheriae ist diese Reisebeschreibung
seit 1887 bekannt. Jetzt bevorzugt man die Überschrift
Itinerarium Egeria'e. Datiert wird die Reise auf die Jahre 381-384; in
der französischen Übersetzung sind genaue Daten eingetragen. Die
Edition stützt sich auf die von Aet. Francheschini und R. Weber 1958
im Corpus Christianorum, Bd. 175: Itineraria Hierosolymitana. Die
übliche Sicht vom „Vulgärlatein" der Egeria wird ergänzt durch das
Urteil, ihre Sprache weise „klassischen Geschmack" auf (53). Auch
Einflüsse von der Vetus Latina her liegen vor (54). Egerias Angaben
über Palästina und Ägypten, über Klöster und Gottesdienste haben
ihren unverändert hohen Wert. Sie selbst nennt sich reichlich neugierig
(satis curiosa: 16,3). Im späteren 7. Jahrhundert jedoch stellte
der Mönch Valerius mönchische Tugenden der Egeria zusammen.
Der Brief ist in Spanien und Brasilien neu ediert, am besten zugänglich
war er bei Migne, PL 87,421-26. Der neue Band der Reihe
Sources Chretiennes bringt zu beiden Texten ausführliche Einführungen
: S. 15-118 sowie 323-35. Dankenswert sind die Jndices
S. 351-71, z. B. Nr. IV Index analytique, Abschnitt 2 Liturgie, der
Stichworte enthält wie Taufe, Sonntag, Märtyrerfeste, Lesungen,
Ostern, Pfingsten, Prozession, Symbol, Vigil u. a., so daß der Quellenband
optimal genutzt werden kann.

GH.

Kirchengeschichte: Neuzeit

Kaiser, Jochen-Christoph: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik
. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und
Weimarer Republik. Stuttgart: Klett 1981. 380 S. gr. 8' = Industrielle
Welt, 32. Lw.DM 118,-.

Die bei Heinz Gollwitzer angefertigte Münsteraner Dissertation
von 1979, die in leicht gekürzter Fassung in der renommierten Schriftenreihe
W. Conzes erschien, schließt sich mit ihrem Thema an die
Arbeiterkulturforschung an, geht allerdings in diesem Komplex allein
nicht auf. Ihren Schwerpunkt hat die Studie in der arbeitsintensiv
bewältigten Darstellung der Organisationsgeschichte der proletarischen
Freidenkerverbände zwischen 1905/08 und 1933 (Kap. C,
S. 81-278). Vorangestellt sind die Kap. A („Kirchenaustrittsbewegung
als Paradigma freigeistiger Aktion") und B („Feuerbestattung
und Freidenkertum"), in denen der Vf. die zwei wesentlichen Betätigungsfelder
des Freidenkertums im historisch-genetischen Zusammenhang
skizziert. Ein eigenes Kap. D ist den Staats-, verfassungs-
und kirchenpolitischen Spannungsfeldern gewidmet, in denen das
proletarische Freidenkertum stand („Freidenkertum, Staat und Kirchen
in der Endphasc der Weimarer Republik").

Über ihre organisationsgeschichtliche Zielstellung hinaus leistet die
Arbeit einen speziellen Beitrag zur Parteigeschichte von SPD und
KPD zwischen 1905 bzw. 1918/19 und 1933. Sie dürfte auch für die
marxistische Geschichtswissenschaft in der DDR (Stichwort Arbeiterorganisationen
) von aktuellem Interesse sein. Zugleich wirft sie
Schlaglichter auf die staatsverfassungsrechtliche Problematik Wei-