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Ausgabe:

1974

Spalte:

694-697

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Pieper, Josef

Titel/Untertitel:

Über die Liebe 1974

Rezensent:

Wiebering, Joachim

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Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1974 Nr. 9

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doch wichtige Gründe, die O.L. fremd sind, weil ihm
die Distanz zu Kierkegaard fehlt. Kierkegaards schriftstellerische
und theologische Arbeit, die die objektive
Gegebenheit des Christentums gesellschaftlich wie geistig
voraussetzen konnte, sich also ,nur' noch dein fordernden
existentiellen Ernst der Frage widmen mußte, „wie
komme ich in ein Verhältnis zu dieser Lehre?" (Johannes
Climacus in der Einleitung zur Unwissenschaftlichen
Nachschrift), gerade diese Ausgangsposition Kierkegaards
ist doch so heute nicht mehr einfach wiederholbar
. Das Christliche und seine Geschichte sind nicht
mehr unsere unbefragte Vorgegebenheit, die durch das
Ärgernis des Paradox zum leidenschaftlichen Einsatz
gebracht werden könnten. Was Kierkegaard als ewige
Wahrheit, als faktisch oder historisch voraussetzt (vgl.
bei O.L. S. 64), ist heute selbst problematisch. Das wird
deutlich im Hinweis etwa auf Kierkegaards schwierigen
Einsatz des „weltgeschichtlichen N.B." in den Philosophischen
Brocken, worauf bei ihm das Historische
zum dialektischen Konfliktanlaß zusammengezogen
wird; oder im Hinweis auf die historische Bibelkritik
und die Erkenntnis der Geschichtsbedingtheit der Fakten
, die Kierkegaard bedenkenlos und alle Bibelforschung
seiner Zeit ignorierend als sozusagen dogmatisch
gegeben noch voraussetzen konnte. Zwischen Kierkegaard
und O.L. liegen aber 100 Jahre, die O.L. nicht
realisieren will! Das gilt nicht nur für seine Paraphrasen
zu Kierkegaards theoretischen Schriften, O.L. vertritt
es konsequent auch gegenüber Kierkegaards Reden,
wenn er einleitend zu dem Aufsatz „Die erbauliche
Rede" schreibt: „Nach meiner Erfahrung versteht der,
den das Leben den Text gelehrt hat, auch das Thema ...
Ich meine ... daß jemand, der Kierkegaards religiöse
Schriften gelesen hat, darüber vielleicht ein Gespräch
wünscht, um hie und da ein wenig zu unterstreichen ..."
(S.105). Auch hier trifft O.L. genau Kierkegaards Absicht
, er hat seine Reden ganz sicher für „Leser" und
nicht für „Interpreten" geschrieben (S.106); doch trifft
ebenso hier der Einwand: Können wir das so wiederholen
, sind wir noch die Leser, wie sie Kierkegaard
glaubte vor sich zu haben? Auch hier sind Brüche und
andere Voraussetzungen, die dazu zwingen, gerade auch
die Heden einmal zu interpretieren, z.B. darauf, wie sie
gemacht sind! Denn gerade die Reden sind für Kierkegaard
Mittel zum Zweck, ins Christentum paradox
hineinzuführen, man könnte heute sagen, seine Reden
sind Tendenzliteratur, und das ist zu interpretieren.

Aus diesen Einwänden ergibt sich eine Beschreibung
der Aufgabe einer sachgemäßen Kierkegaard-Interpretation
: Sie muß 1., wie es O.L. im Extrem vertritt,
Kierkegaards Anspruch an Inhalt und Form seiner
Werke interpretierend bzw. paraphrasierend einlösen,
sonst wird aus der Interpretation Wissenschaftlerei, die
zwar ordentlich philologisch, aber konstant am Gegenstand
eines existierenden Denkers vorbei arbeitet. Hier
gilt O.L.s Fazit: „Das Christentum erklärt sich als ein
Paradox. Es will weder von einer gläubigen noch einer
ungläubigen Betrachtung betrachtet werden, sondern es
will in Annahme oder Verwerfung verstanden werden"
(S.163).

2. muß eine sachgemäße Kierkegaard-Interpretation,
um nicht in ein zu dem Dialektiker Kierkegaard eigentlich
unmögliches Schülerverhältnis zu geraten (auch
Sokrates hatte keine Schüler, wie Kierkegaard immer
betonte), kritische Distanz zu ihrem schwierigen Gegenstand
gewinnen, weil er für uns nur im historischen Abstand
da ist, über den man sich weder wissenschaftlich
noch existentiell hinwegsetzen sollte, weil der zu interpretierende
Gegenstand Kierkegaard die Überwindung
des historischen Abstands gegenüber dem Christentum
in Gleichzeitigkeit zum Thema hat. Deshalb ist eine

Wiederholung Kierkegaards ein .Abweg, weil man so
Kierkegaard das zumutet, was er im Verhältnis zum
Christentum forderte und gerade nicht im Verhältnis
zu sich selbst.

Die Einheit beider Forderungen macht die Spannung
und Schwierigkeit jeder Kierkegaard-Interpretation
aus, O.L. erfüllt beispielhaft und mit Konsequenz nur
die eine Seite. So kommt es zu seiner Hilflosigkeit
gegenüber Kierkegaards naiver, konservativer Staatsund
Sozialtheorie (S.149), wie zu tautologischen Beteuerungen
, deren Sinn kritisch aufgehellt und aus
Kierkegaards Situation erst erklärt werden müßte: „Das
Paradox allein ist der Inhalt des Paradox" (S.162). Wer
zu nahe an seinem Gegenstand dran ist, kann nicht mehr
auf ihn deuten! - „Ich fühle ständig eine gewisse
Unsicherheit gegenüber Kierkegaard, nicht eben weil ich
etwas Verkehrtes sage, sondern weil ich es sage" (O.L.
S.122).

Radevormwald/Dahlerau Hermann Deuser

Pieper, Josef: Über die Liebe. München: Kösel-Vcrlag [1972].
207 S. 8°. Kart. DM 18,80.

Die Kette seiner Darstellungen der sieben Grundtugenden
schließt Josef Pieper mit diesem Band über
die Liebe ab. In der Form eines groß angelegten Essay
umkreist Pieper den vielfältigen Bedeutungsgehalt des
Wortes „Liebe" und setzt sich mit der Tradition des
philosophischen und theologischen Nachdenkens über
Gestalten, Ursprung und Ziel menschlicher Liebe auseinander
. Das Buch wendet sich an Zeitgenossen, denen
die fremd gewordenen Schätze der Tradition wieder
aufgeschlossen werden sollen, um ihnen in der aktuellen
Diskussion um humanes Denken und Handeln Maßstäbe
und Antworten zu geben.

Pieper setzt mit einer Durchsicht des Wortbestandes
in den verschiedenen Sprachen ein. Daß im Deutschen
mit dem einen Wort „Liebe" sehr Verschiedenes gemeint
sein kann, ist nicht bloß eine Armut der deutschen
Sprache; darin liegt vielmehr die Chance, „das dennoch
Einheitliche in allen Gestalten der Liebe nicht aus dem
Blick zu lassen und dies Gemeinsame, allem einengenden
Mißbrauch zum Trotz, dem Bewußtsein präsent zu
haben" (17). Ein Überblick über das lateinische, griechische
, englische, französische und russische Vokabular
zeigt, daß in allen diesen Sprachen „Liebe" mit unterschiedlichen
Begriffen bezeichnet wird, so daß sich die
Frage nach dem Gemeinsamen in aller Schärfe stellt.
Hier stellt Pieper eine erste wichtige These auf: „In
jedem denkbaren Fall besagt Liebe soviel wie Gutheißen
" (38). Lieben heißt, zu jemand sagen: „Gut, daß
du auf der Welt bist!" Damit ist Liebe als ein Willensakt
definiert, wobei Pieper Wert darauf legt, daß Willen ein
Akt der Bejahung und nicht nur die Vorbereitung zu
einem Tun ist. Dieser Ur-Akt der Bejahung des anderen
ist ein Nachsprechen und ein Nachvollzug der krea-
torischen Ur-Bejahung jedes Menschen durch Gott,
durch die jeder Mensch erst existiert.

Von der Seite dessen her, der geliebt wird, bedeutet
diese Gutheißung, daß er sich bestätigt weiß und selber
die Fähigkeit gewinnt, andere zu lieben. So ist Liebe das
„Ur-Geschenk", durch das der Mensch zugleich bestätigt
und beschämt wird. Darum trägt Liebe und
Geliebt-Werden dazu bei, daß ein Mensch sich ändert.
Der Liebende will ja, daß es um den anderen gut bestellt
ist; er wird darum nicht alles entschuldigen, was dieser
tut. „Wohlwollen ist nicht schon genug, damit von Liebe
gesprochen werden kann" (77). Auch Unerbittlichkeit
gehört in gewisser Weise zur Liebe hinzu, indem der