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Ausgabe:

1913 Nr. 16

Spalte:

493-495

Autor/Hrsg.:

Sohm, Walter

Titel/Untertitel:

Die Schule Johann Sturms u. die Kirche Straßburgs in ihrem gegenseitigen Verhältnis 1530 - 1581 1913

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 16.

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weniger gegen die Averroiften gerichtet, als gegen die
Feinde des Kreuzes. Im Vordergrund fleht feine, wie G.
nachweift, nicht völlig originelle Idee, Sprachenklöfter zu
gründen, in denen Miffionare ausgebildet werden, die die
Ungläubigen durchPredigt und Disputation von der Richtigkeit
des Chriftentums überzeugen follen. Mit diefer Idee
verbindet er aber die Kreuzzugsidee; doch fcheint es, als
ob der Krieg ihm nur als Mittel zur friedlichen Bekehrung
wertvoll fei. Ramon Lull hat feine Anfchauungen in
feinem Liber de fine zufammengefaßt, den er Jakob II. von
Aragonien überreichte. G. teilt große Stücke aus diefer
intereffanten Schrift nach dem Münchener Manufkript
clm 10543 im Anhang mit; er macht wahrfcheinlich, daß
fie auf die gleichzeitigen Schriftfteller, die Kreuzzugspläne
vertraten, und auch auf Papft Clemens V. bedeutenden
Einfluß ausgeübt habe. Doch ift es zu einer nachhaltigen
Wirkung nicht gekommen. So fehr fleh Lull auch weiter
bemühte, geiftliche und weltliche Fürften, Papft und
Konzil für feine Pläne zu gewinnen, fo hatte fleh doch der
Kreuzzugsgedanke überlebt und Lulls Miffionsidee ift erft
durch Urban VIII. verwirklicht worden, als er 1627 das
seminarium de propaganda fide gründete. Gottron fucht
fleh die Mißerfolge Lulls auch durch deffen Charakter zu
erklären, von dem er im 6. Kapitel ein lefenswertes Bild
entwirft;' er weift hin auf feine Doppelnatur, die ins Weite
ftrebt und doch wieder in fleh felbft fleh zurückzieht,
feine Unbeftändigkeit und Zähigkeit, feine Demut und fein
Selbftbewußtfein, feinen Sinn für das Notwendige und
doch auch wieder den Mangel an politifchem Verftändnis.
Man kann es verliehen, warum G. ihn einen Romantiker
nennt, und wie es kam, daß feine größte Bedeutung in
feinen Gedichten liegt.

Außer den Auszügen und der Analyfe des Liber de
fine enthält der Anhang die Überfetzung des Anfangs des
libre del orde de cavayleria und des liber phantasticus,
beigegeben ift die Reproduktion der Initiale auf Fol. 2
der lateinifchen Handfchrift Paris, Bibl. nat. 3323, Lull vor
Philipp dem Schönen darflellend. Der Verfaffer hat tüchtige
handfehriftliche Studien gemacht; die Angaben über
den Roman Blaquerna flammen aus Cod. mon. hisp. 67.
Es ift zu hoffen, daß er feine Unterfuchungen fortfetzt.
Wir lernen ja immer mehr den großen Reichtum und
den Wert des geiftigen Lebens um die Wende des 13.
Jhs. kennen; vor allem aber auch den großen Zwiefpalt

von Kirche und Schule 1530—1560 (124—194). Das dritte
Buch fchildert den Kampf zwifchen Schule und Kirche
vom Beginn des Streites zwifchen Marbach und Zanchi
(1561) bis zum Sieg der Orthodoxie und zur Abfetzung
Sturms 1581 (195—296). Nunmehr wurde jeder Lehrer
der Sturmfchen Schule gezwungen, das vielumftrittene
Konkordienbuch zu unterfchreiben. Von dem Augenblicke
an war Butzerfchem und Sturmfchem Geilt der
Riegel auf der Hochfchule vorgefchoben. Die Annahme
der Kirchenordnung von 1598 war der endgültige Schritt
zur Herrfchaft der Konkordienformel über Kirche und
Schule.

Wenn auch die zwei letzten Bücher für die Gefchichte
der Kirche und der Theologie den Hauptgewinn abwerfen,
fo gehn doch bereits von der Einleitung und dem erften
Buch dankenswerte Erkenntniffe aus, die der Beurteilung
von Renaiffance und Reformation unmittelbar zugut
kommen. Lehrreich find befonders die fich häufig aufdrängenden
Parallelen Sturms mit Erasmus und mit Melanch-
thon, die fruchtbaren Beziehungen zwifchen Humanismus
und Erneuerung des Schulbetriebs und des Kirchemvefens.
Man vergleiche z. B. die Korrelation zwifchen Reinheit
der Lehre und Reinheit der Sprache. Soll die doctrina
Chrifti pura et incorrupta fein, fo muß fie auch in einem
sermo purus doziert werden: gute Theologie — gutes
Latein. Die Irrlehren der Scholaftik mit ihrem barbari-
fchen Latein und der Zufammenhang der Reformation
mit dem Wiedererwachen der ciceronianifchen Sprache
find fchlagende Beweife für die Berechtigung diefer Auf-
faffung. Sturm ift nicht minder von ihr überzeugt wie
alle feine humaniftifchen Zeitgenoffen: klar rede man über
Gott; verworren fprechen die Ketzer (109—110). Wie
die von Cicero ausgegangenen Anregungen evangelifch
verwertet werden, zeigt fich auf formalem und materialem
Gebiet. Während Cicero die Bühne, die er für die Bered-
famkeit forderte, in einem Staat fand, deffen Bürger in
realem Sinn Weltbürger find, erblickte Sturm diefen für
die Eloquentia geeigneten Boden in der Kirche der Reformation
, die fomit für den humaniftifch gebildeten Redner
die Aufgabe des antiken Staats zu erfüllen berufen war
(47» 53)- Daß zuweilen auch der Humanift den Jünger
der Reformation in den Hintergrund drängt, erhellt aus
der Tatfache, daß Sturm keinen Wefensunterfchied zwifchen
Religion und Philofophie ftatuieren möchte; ihm

des religiöfen Lebens und die Unficherheit derer, die fich j fließen sapientia und religio nicht minder ineinander als
an die mittelalterliche Kirche glaubten binden zu müffen j sapientia und virtus in der ciceronianifchen Popularphilo-
und doch über ihre Ideale fchon hinaus waren. Es bahnen [ fophie. Will man Sturms Auffaffung des idealen Chriflen
fich eben neue Geftaltungen an; und man verflünde den 1 in eine knappe Formel bringen, fo muß man in dem Wort

fie°reichen Kampf gegen das Papfttum nicht, wenn man
nicht die Gedanken von Männern, wie Ramon Lull, eingehend
berückfichtigte.

Kiel. G- Ficker.

Sohm DnVvbalter: Die Schule Johann Sturms u. die Kirche
Straßburgs in ihrem gegenfeitigen Verhältnis 1530—1581.

Ein Beitrat- zur Gefchichte deutfeher Renaiffance.

(Hiflorifche0 Bibliothek, 27. Bd.). (XIV, 318 S.) 8».

München, R. Oldenbourg 1912. in Pappbd. M. 8 —
Ein wertvoller, auf umfaffender und gründlicher
Quellenforfchung beruhender Beitrag zur Gefchichte der
deutfehen Renaiffance und der deutfehen Reformation.
Diele Unterfuchung des gegenfeitigen Verhaltmffes der
Schule Johann Sturms und der Kirche Straßburgs ftellt
den Gegenftand in den großen Zufaminenhang der geiftigen
und religiöfen Bewegung des XVI. Jahrhunderts.
Zunächft nimmt der deutfehe Humanismus die Aufmerk-
famkeit und das Intereffe des Verfaffers in Anfprucb.
Die Einleitung und das erfte Buch feiner Schrift erfchienen
gleichzeitig als Differtation der philofophifchen Fakultät
zu Freiburg (Baden] unter dem Titel: Der Begriff und
die Schule der sapiens et eloquens pietas (7—123).
Das zweite Buch gilt dem Ausbau und der Entwicklung

vom vir bonus et dicendi peritus das bonus durch ein
pius erfetzen. Der Gedanke des Urchriftentums, daß ein
jeder Chrift Priefter fein konnte, begegnet fich mit dem
der Humaniften, daß der univerfell Gebildete auch das
Charisma des Wortes befitzt. Es ift Raum gegeben für
die Idee eines gebildeten Laienprieftertums (116—118).

Indem wir darauf verzichten müffen, die reiche Belehrung
, die die Gefchichte der Pädagogik aus diefem
Buche entnehmen kann, durch einzelne Belege und Bei-
fpiele zu illuftrieren, heben wir noch einige Punkte hervor
, die für den Theologen befonders inftruktiv und
intereffant find. Immer wieder find es die Abendmahlslehre
und das Prädeftinationsdogma, die als Gegenftand
dogmatifcher Bearbeitung und als Anlaß zu tEeolomfc'hen
Kontroverfen dem Hiftoriker begegnen. Die verfchiedenen
Strömungen, die in Butzers Abendmahlslehre zufammen-
laufen, weiß der Verf. klar und überzeugend zu unter-
fcheiden. In der Wittenberger Konkordie deckt er den
Samen künftigen Zwiefpalts zwifchen Kirche und Schule
auf In der folgenden Entwickelung zeigt fich auch, wie
fich in Butzer die Gedanken aus allen Lagern der Reformation
kreuzten und ihn in Widerfprüche und Unklarheiten
verwickelten. Seitdem durch Marbachs feftes und
zielbewußtes Eingreifen fich ,die Gegenfätze fonderten,
verloren fie an Feinheit und edler Gefinnung und ge-