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Ausgabe:

1885 Nr. 7

Spalte:

155-159

Autor/Hrsg.:

Bestmann, H. J.

Titel/Untertitel:

Geschichte der christlichen Sitte. 2. Tl.: Die katholische Sitte der alten Kirche. 2 Lfg 1885

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1885. Nr. 7.

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denn der Verf. hat mit folchem Fleifse Bericht über die
neueften Bewegungen in der katholifchen und in den
proteftantifchen Kirchen bis auf die Gegenwart erftattet,
dafs er fein Buch hier zu einer überfichtlichen Chronik
geftaltet hat. Umgearbeitet und aufserordentlich erweitert
ift der 5 (die proteftantifche Theologie). Seinen
eigenen theologifchen Standpunkt hat der Verf. irgendwo
verleugnet, ihn im Gegentheil an einigen Stellen deutlich
hervortreten laffen; aber nicht wenige fchiefe oder ungerechte
Urtheile der früheren Auflagen find nun befei-
tigt und auch die Claffification ift eine ungleich beffere
geworden. Der Verf., der lieber lobt als tadelt, hat fich
auch hier bemüht, vor allem zutreffend zu referiren.
Das zeigt fich z. B. in feiner Darftellung der Theologie
Ritfchl's, die frei ift von den üblichen Entftellungen.
Unrichtig ift es jedoch, wenn Kurtz behauptet, Ritfehl
beurtheile den Pietismus durchweg abfällig. Dafs dies
nicht der Fall ift, zeigt der jetzt vorliegende 2. Band;
aber auch fchon der erfte hätte den Verf. vor diefem
apodiktifchen Urtheil bewahren können. An einem
Punkte allerdings ift der Verf. m. E. fehr ungerecht geworden
, das ift bei der Beurtheilung der Wellhaufen'-
fchen Arbeiten. Es ift zu bedauern, dafs die künftigen
Generationen von Studirenden aus diefer Kirchenge-
fchichte alfo belehrt werden — ich will die Worte nicht
herfetzen. Möge die beffernde Hand des Verf.'s an diefem
Satze nicht vorbeigehen, wenn fie diefes Buch zu einem
neuen Ausgang fertig macht.

Giefsen. Adolf Harnack.

Bestmann, Tic Dr. H. J., Geschichte der christlichen Sitte.

II. Tl.: Die katholifche Sitte der alten Kirche. 2. Lfg.
Nördlingen, Beck, 1885. (X u. S. 129—711. gr. 8.)
M. 10. 20.

Referent hat die beiden erlten Abtheilungen diefes
Werkes in diefer Zeitung (1881 Nr. 7. 1883 Nr. 12) eingehend
befprochen: er fagt nur ungern wiederum ein
hartes Wort, und doch ift leider Vieles von dem zu
wiederholen, was damals gefagt werden mufste. Anderer-
feits bekennt er gerne, dafs der Verfaffer mit feinem
Stoffe gewachfen ift. Eine Vergleichung diefes Bandes
mit dem erften fällt zu Gunften der neuen Arbeit aus.
Der Verf. bekundet ein buntes gefchichtliches Wiffen
und bringt hier wirklich an einigen Stellen zutreffende
gefchichtliche Betrachtungen, die theils durch die Lebhaftigkeit
der Auffaffung, theils durch das grofse Ge-
fchick des Vortrags Eindruck machen. Das Buch ift
was man fo ein geiftreiches nennt. Das ift allerdings
für ein Werk, welches Gefchichte erzählen
will, nur ein bedingtes Lob, und ich kann nicht |
umhin, auch diefes Lob noch erheblich einzufchränken;
denn neben einigen guten Urtheilen, treffenden ,
Combinationen und richtigen Bemerkungen finden fich j
in dem Werke noch immer die wunderlichften Einfälle,
Phantafien, Herzenskündigungen und gänzlich luftige |
Urtheile. Kobolde der verfchiedenften Art tummeln fich
auf diefen Blättern und treiben hier und dort noch ein
tolles Spiel. Es ift mir unbegreiflich, wie ein Schrift-
fteller, der die Mittel wohl kennt, um feine Lefer zu j
belehren und zu erheben, es immer wieder vorzieht,
ihnen neben dem Brode Steine zu bieten, glitzernde |
Steine, ein Spielzeug für grofse Kinder. Ich denke hier
nicht an die gewagteften gefchichtlichen Combinationen,
wie die, dafs die neu entdeckte Jidayi] die Belehrung !
der chriftlichen Juden Antiochiens an "die hellenifchen
Chriften um d. J. 70 enthalte, und dafs der Barnabasbrief
als die Antwort der Hellenen auf diefe Belehrung (kurz
vor 79) anzufehen fei. Auf diefem Gebiete ift ja noch
Alles erlaubt, und fo mag auch diefer Einfall neben '
vielen anderen, die eine kritifche Prüfung nicht vertragen,
gelten. Was ich meine, will ich durch zwei Citate aus
dem Werke des Verf.'s belegen, zum Zeugnifs, dafs ich

oben nicht zuviel gefagt habe. S. 157 f. erörtert der
Verf. zuerft, dafs die hellenifche Philofophie im Grunde
nur ein Problem habe: das Verhältnifs des fich felbft
beftimmenden Geiftes zu dem beftimmten Stoff, dafs die
einzige Form, in der überhaupt Gemeinfchaft von Geift
und Sinnlichkeit bei ihnen gedacht werden könne, das
Erkennen fei, und dafs das Problem des Verhältnifses
des Willens zur Natur nicht erfafst werde. Dann fährt
er fort: ,Die ifraelitifche, wir dürfen wohl allgemeiner
fagen, femitifche Anfchauung ift nun dem doch ganz
entgegengefetzt. Die praktifche Beherrfchung der Natur
durch den Geift ift die Vorausfetzung ihrer Lehren, wie
z. B. der Schöpfung und ihrer Gefchichte. Wer lieht
nicht, dafs eben diefe der Boden für die Wunder, d. i.
die Uebermacht des fpontanen Geiftes über die Natur
find? Es ift das eigenfte Wefen der Natur, ein williges
Organ des Geiftes zu fein'. Ich habe diefe Sätze wiederholt
erwogen, die Charakteriftik der femitifchen Anfchauung
, den salto mortale auf das Wunder und das Orakel
von dem eigenften Wefen der Natur, ein williges Organ
des Geiftes zu fein. Die Charakteriftik der Semiten ift
völlig luftig, der saltus noch luftiger und das Orakel am
luftigften. Aber der Verf. fährt fort: ,Auch die ifraelitifche
Weltanfchauung weifs von einem alten, wenn auch
nicht urfprünglichen Gegenfatz von Innerem und Aeufsc-
rem, von Geiftigem und Sinnlichem. Aber wie er durch
den Willen gefetzt ift, ift er auch lösbar durch ihn: fie
fpitzt den allgemeinen Welt-Gegenfatz von Form und
Stoff zu zu dem individuellen von Geift und Fleifch.
Und in dem Rahmen diefer Weltanfchauung fpringt dann
prall (!) und grofs der Gedanke der Erlöfung hervor, wie
fie in Chrifto Jefu verwirklicht ift'. Welche Sprache und
wiederum welch ein Sprung! In der That — es ift fehr
leicht, Gefchichte zu fchreiben, wenn man fiatt mit den
realen Mächten mit Kategorien rechnet, die man nach
Belieben combiniren kann. Der Verf. fehiebt aber immer
wieder, wie zur Erholung von ernfthaften Anläufen die Wolken
einer gänzlich nebelhaften Philofophie zufammen.Man
lieft einige Seiten mit Intereffe, um fchlicfslich durch
irgend eine wahrhaft ekftatifche Rede um den Dank und
um den Ernft gebracht zu werden. Hier noch das ver-
fprochene zweite Bcifpiel. Nachdem der Verf. unter dem
Titel ,Antiochien' das erfte Stadium der hellenifchen
Kirche gefchildert hat — es ift ihm das wichtigfte, weil das
grundlegende — fafst er (S. 177) alfo zufammen: Vergegenwärtigen
wir uns inzwifchen noch einmal, was die
hellenifche Kirche aus ihrem erften Stadium für die weitere
Entwicklung mitbrachte. Sie hatte fich auf eigene
Füfse geftellt, indem fie in dem lebendigen perfönlichen
Verhältnifs zu Chrifto ihr Lebenselement erkannte —
Paulus hatte nicht umfonft in ihr gezeugt'. Das ift Gefchichte
! Weil Ignatius, ,am erften vielleicht noch mit
Zinzendorf zu vergleichen', eine ,von Chrifto tief ergriffene
aber auch aufgeregte Natur' gewefen ift, darum
ift zu urtheilen, dafs die antiochenifche Kirche, wie die
hellenifche Chriftenheit überhaupt, ,in dem lebendigen
perfönlichen Verhältnifs zu Chrifto ihr Lebenselement
erkannt hat'. Was der Verf. fonft noch als Ertrag diefes
erften Stadiums anzugeben weifs, fleht auf der gleichen
Höhe: ,Man hatte die Form der judenchriftlichen Lebens-
auffaffung abgeworfen . . . auf der anderen Seite hat man
von den lfbioniten gelernt, was es um eine feftgefugte
durch Aemter richtig verwaltete Gemeinde fei (!). Nicht
als ob man fofort den Alten Bund hätte kopiren wollen (!).
Aber man fchrob (?) nun das Wefen der chriftlichen Gemeinde
fo in die Höhe, dafs man nur mit Mühe den
Anfchlufs an die vorhandenen alten chriftlichen Inftitu-
tionen erreichte. Diefe bekamen dadurch ein etwas
änderbares (!) Relief: aber indem man die Sakramentsverwaltung
fchon an den Bifchof geknüpft hatte, zeigte
fich doch, dafs nun die Aufgabe fei, jene überfchweng-
liche Auffaffung der Kirche inniger in eins zu weben
mit den greifbaren Erfcheinungen des Lebens — das ift