19.07.2022
Wolfgang Harnisch zum Gedenken (12. November 1934 – 3. Juni 2022)
Der Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg trauert um sein langjähriges Mitglied Prof. Dr. Wolfgang Harnisch.
Wolfgang Harnisch studierte Evangelische Theologie in Berlin, Heidelberg, Göttingen und Bonn, war Vikar in Düsseldorf und Assistent bei Ernst Fuchs in Marburg. 1967 wurde er mit der viel diskutierten Arbeit »Verhängnis und Verheißung der Geschichte. Untersuchungen zum Zeit- und Geschichtsverständnis im 4. Buch Esra und in der syrischen Baruchapokalypse« (FRLANT 97, Göttingen 1969) promoviert. Im Sommersemester 1971 folgte die Habilitation mit der Arbeit »Eschatologische Existenz. Ein exegetischer Beitrag zum Sachanliegen von 1. Thessalonicher 4,13–5,11« (FRLANT 110, Göttingen 1972). Bereits in diesen ersten Werken wird Harnischs hermeneutisches Interesse an den existentialen Fragen und theologischen Bewegungen hinter den apokalyptischen Konzeptionen deutlich. Mit tiefenscharfer Beobachtung von Sprach- und Textstrukturen kann er das jeweils spezifische Existenzverständnis der Texte aufdecken. Nach seiner Habilitation folgte er 1972 dem Ruf an die Pädagogische Hochschule nach Reutlingen. Eine Stelle in Groningen schlug er aus und nahm stattdessen 1974 den Ruf zum ordentlichen Professor in Marburg an. Bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 1998 blieb er Marburg treu. Zweimal stand er dem Fachbereich als Dekan vor und wirkte im Kuratorium der Evangelischen Akademie Hofgeismar. Er war Vizepräsident der Académie Internationale des Sciences Religieuses, unternahm zahlreiche Vortrags- und Konferenzreisen in die USA sowie ins europäische Ausland und arbeitete in internationalen Forschungsgruppen zur Apokalyptik und Gleichnisforschung mit.
Die Auslegung der Gleichnisse Jesu sind Harnischs zweiter und vermutlich bekanntester Arbeitsschwerpunkt. Als Herausgeber von »Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung von Adolf Jülicher bis zur Formgeschichte« (WdF 366, Darmstadt 1982) und »Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft« (WdF 574, Darmstadt 1982) stellte er die Meilensteine der Gleichnisforschung und deren Auslegungstheorien aus Geschichte und Gegenwart zusammen. Der UTB-Band »Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung« erlebte 1985 bis 2001 vier vom Autor erweiterte Auflagen sowie Übersetzungen ins Spanische und Japanische. Der Band ging aus Marburger Vorlesungen hervor und ist explizit an Studierende, aber auch interessierte Laien gerichtet. Harnisch versteht Gleichnisse als selbstständige Redeform Jesu und analysiert sie vor dem Hintergrund von Paul Ricœurs sprachpoetischer Metapherntheorie als autonomes Kunstwerk. Die Parabeln sind Bühnenstücke in drei Akten, die Unerhörtes, Extravagantes und Souveränes als befreiende Zumutung des Widersinnigen szenisch hör- und erlebbar werden lassen.
Freunde, Schüler, Kollegen und eine Kollegin widmeten Harnisch zum 60. Geburtstag eine Festschrift, die mit der Pointe des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg »Der bezwingende Fortschritt des Guten« überschrieben ist (hgg. von Ulrich Schoenborn und Stephan Pfürtner, Münster 1994). Schwere Krankheiten, die ihn 1998 in den verfrühten Ruhestand zwangen, ließen Wolfgang Harnisch in den letzten Jahren nur noch selten am Geschehen des Fachbereichs teilnehmen. Umso dankbarer muss die Wissenschaft für die zwei Sammelbände sein, deren Aufsätze sein Werk abrunden. Ulrich Schoenborn gab den Band »Die Zumutung der Liebe« (FRLANT 187, Göttingen 1999) heraus, der 13 Arbeiten zu Gleichnistheorie und Nachfolge, zum johanneischen Denken und zur paulinischen Theologie zusammenstellt. 2009 konnte Harnisch selbst sechs unveröffentlichte Aufsätze zusammen mit sechs bereits veröffentlichten Studien zu Apokalyptik, Gleichnissen, Bergpredigt, Johannesevangelium und Paulus unter dem Titel »Rhetorik und Hermeneutik in der Apokalyptik und im Neuen Testament« (SBA 45, Stuttgart) zusammenführen. Hier finden sich die wichtigen Beiträge zur rhetorischen Paulusexegese, zu deren Begründern Harnisch seit den 1990er Jahren gehörte und die er doch in ganz eigener Weise als hermeneutisches Sprachereignis deutete, in denen der Apostel von sich weg auf einen Höheren verweise um Spielräume der Freiheit für eigenes Erkennen zu eröffnen.
Harnischs Lebenswerk war, wie er in seinem letzten Vorwort festhält, der Überprüfung von Ernst Fuchs’ Diktum »Im Zusammenspiel des Textes mit dem alltäglichen Leben erfahren wir die Wahrheit des Neuen Testament« gewidmet (Rhetorik und Hermeneutik, 7). Der Fachbereich blickt stolz und dankbar auf das Erbe dieses wichtigen Neutestamentlers zurück und wird Wolfgang Harnisch ein ehrendes Andenken bewahren. Seinen Schülern und seiner Familie möge zum Trost werden, was Harnisch im Vorwort seiner 1999 erschienenen Aufsatzsammlung als exegetische Grunderfahrung formuliert: »dass die Liebe jenen Ort vorgibt, an dem Gott angetroffen sein will.«
Prof. Dr. Angela Standhartinger
Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg
Fachgebiet Neues Testament