01.06.2022

Martin Schloemann zum Gedenken

Wie viele Angehörige seiner Generation hat Martin Schloemann (1931–2022) entscheidende Impulse im Ausland empfangen: Nachdem der westfälische Pfarrerssohn sein Studium in Bethel und Heidelberg begonnen hatte, setzte er es drei Semester lang als Stipendiat im südschwedischen Lund fort; nach der Promotion wirkte er in Schweden vier Jahre als Pastor einer deutschen Gemeinde. Es entstanden familiäre Bindungen, die ein Leben lang hielten, und die kirchlichen wie die akademischen Beziehungen zwischen Deutschland und Skandi¬navien blieben ihm ein Herzensanliegen. Mit Kummer nahm er wahr, dass sich in den skandinavischen Ländern die Bindungen an die deutsche Kultur und Sprache immer weiter lockerten.
Auch für sein wissenschaftliches Werk markierte das Eintauchen in die akademische Welt Schwedens und Skandinaviens insgesamt eine entscheidende Weichenstellung: Er wuchs in eine theologische Diskussionskultur hinein, die frei war von den offenen und untergründigen Spannungen, in denen in Deutschland der Kirchenkampf der frühen NS-Zeit fortwirkte, und den Kampflinien, die den deutschen Protestantismus dann seit den späten 60er Jahren tief zerfurchen sollten. Jene gesunde Distanz ist Schloemanns 1961 publizierter Münsteraner Dissertation, »Natürliches und gepredigtes Gesetz bei Luther«, TBT 4, Berlin 1961, anzumerken; sie war mit Martin Luthers Gesetzesverständnis einem Thema gewidmet, das damals als Schauplatz diente, auf dem, gleichsam historisch kostümiert, prinzipientheoretische, sozialethische und politische Optionen ihre Stellvertreterkriege widereinander ausfochten. Schloemanns Untersuchung führt aus diesen Verengungen schon deshalb heraus, weil sie mit der die deutsche Lutherforschung seit Albrecht Ritschl beherrschenden Fixierung auf den »Jungen Luther« bricht und sich auf des Reformators Auseinandersetzung mit den »Antinomern« um Johann Agricola konzentriert, also dasjenige Quellencorpus, in dem Luther seine ausgereifte, abschließende Stellungnahme zum Thema formuliert hat. Das für heutige Verhältnisse schmale Werk bleibt lesenswert: Historische Rekonstruktion und systematische Diskussion werden sauber auseinandergehalten, und gerade dadurch entsteht eine fruchtbare Spannungsdynamik. Zu Martin Luther, der primären Leitinstanz seines theologischen Denkens, kehrte Schloemann immer wieder zurück.
Aus Schweden kehrte Schloemann nach Deutschland zurück, und zwar als Assistent Gottfried Hornigs an die neu gegründete Universität Bochum. Ausgestattet mit Blanko-Schecks, fuhr er durch Deutschland und kaufte für deren Bibliothek private theologische Bücherbestände auf, u. a. bei Rudolf Bultmann. In Bochum blühte damals die philosophie- und theologiegeschichtliche Forschung, auch zum 17./18. Jh. In der Evangelisch-theologischen Fakultät gewann eine neue Gesamtauffassung des Pietismus (Johannes Wallmann) Konturen, und Gottfried Hornig befreite, konzentriert auf Johann Salomo Semler, die deutsche theologische Aufklärung vom Odium der Minderwertigkeit. Dem Lehrer Semlers, Siegmund Jakob Baumgarten (1706–1757), widmete Schloemann seine Habilitationsschrift: »Siegmund Jacob Baumgarten. System und Geschichte in der Theologie des Übergangs zum Neuprotestantismus«, FKDG 26, Göttingen 1974. Sie zeichnet nach, wie im Werk des vielseitig interessierten und tätigen Wissenschaftsorganisators das Erbe der altprotestantischen Orthodoxie wie des Pietismus gleitend in eine Frühgestalt von Aufklärungstheologie überging. Die profund gelehrte Pionierarbeit wird bis heute lebhaft rezipiert – in den Zirkeln der Spezialisten. Weitere Beachtung fand Schloemanns separat publizierte Antrittsvorlesung: »Wachstumstod und Eschatologie. Die Herausforderung christlicher Theologie durch die Umweltkrise«, Stuttgart 1973. Mit ihr wurde er zum frühen Protagonisten der Verbindung von evangelischer Frömmigkeit und Theologie mit ökologischem Problembewusstsein. Sie zeigt, dass in deren Anfängen die Einordnung der Grünen Bewegung in das hergebrachte politische Farbenspektrum längst nicht so eindeutig wie später durch den Komplementärkontrast festgelegt war: Der Protest gegen ein Wirtschaften, das als Ausdruck der unersättlichen Maßlosigkeit gewertet wurde, war damals ein Anliegen, das auch Konservative der unterschiedlichsten Schattierungen vertraten. Martin Schloemann hat dann auch die politische Fortentwicklung der ökologischen Bewegung und deren Rückwirkungen auf die Evangelische Kirche mit der Distanz des dezidiert lutherischen Theologen verfolgt, dem Unterscheidungen wie die von Gesetz und Evangelium und Regiment Gottes zur Rechten und zur Linken nie zur Disposition standen. Gegenüber Konvulsionen apokalyptischer Erregung wie naiv-innerweltlicher Reich-Gottes-Phantastik rief er die reformatorisch reorganisierte Lehre von den Letzten Dingen in Erinnerung.
Schon bald nach seiner Habilitation wurde Schloemann an die 1972 gegründete Bergische Gesamthochschule Wuppertal, die heutige Bergische Universität, berufen. In seiner Antrittsvorlesung war das apokryphe Luther-Wort vom Apfelbäumchen mit seiner Wirkungsgeschichte Ausgangspunkt für eine Reihe von mentalitätsdiagnostischen Kabinettstücken aus theologischer Perspektive: »Luthers Apfelbäumchen. Bemerkungen zu Optimismus und Pessimismus im christlichen Selbstverständnis«, Wuppertaler Universitätsreden 7, Wuppertal 1976. Schloemann arbeitete an diesem Thema beharrlich und erfolgreich weiter. Neues Material erschloss er sich nicht nur durch das Studium schriftlicher Quellen, sondern auch durch Umfragen, die ihm immerhin Antworten von Gustav Heinemann und Hanns Lilje einbrachten. 1994 war der Vortrag zu einer stattlichen Monographie herangewachsen: »Luthers Apfelbäumchen? Ein Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg«, Göttingen 1994, die 2016, nochmals ergänzt, in zweiter Auflage erschien. In Wuppertal vertrat Schloemann, seiner Neigung und Begabung folgend, die Kirchengeschichte und die Systematische Theologie jeweils im vollen Umfang. Er publizierte daneben weiter zu den Themen seiner Qualifikationsschriften.
Vorbildlich war seine Nachwuchsförderung: Er eröffnete jungen Leuten Freiheitsräume zur intellektuellen Entfaltung und zum Hineinwachsen in den Beruf des Hochschullehrers. Einer seiner Assistenten, Peter Steinacker, wurde Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, drei weitere, Hermann Deuser, Hartmut Rosenau und Heiko Schulz, wurden auf renommierte Lehrstühle berufen.
1996 wurde Schloemann emeritiert. Gesundheitliche Probleme beeinträchtigten ihn, aber sie nahmen ihm nie den Lebensmut und die Freude am Austausch mit seiner weit verzweigten Familie, Freunden und Kollegen.
Am 27. Januar 2022 ist Martin Schloemann, nur wenige Monate nach seiner Frau, in seinem Bochumer Heim verstorben.

Martin Ohst, Bergische Universität-Gesamthochschule Wuppertal, Fachbereich 2: Evangelische Theologie