01.06.2022

Hans Bernhard Kaufmann zum Gedenken

Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Westf. Wilhelms-Universität Münster trauert um Hans Bernhard Kaufmann (12.12.1926–8.1.2022), der als Honorarprofessor an der Fakultät wirkte. Kaufmann wurde 1926 in Breslau geboren, er verstarb 2022 in Münster.
Kaufmanns Kindheit und Jugend war durch den Einfluss des Nationalsozialismus geprägt. Zwischen 1937 und 1944 besuchte er die nationalpolitische Erziehungsanstalt (NAPOLA) in Plön, eine der ersten ihrer Art. Infolgedessen wurde er nicht konfirmiert, sondern unterzog sich der kultisch-religiös geprägten, nationalsozialistischen Jugendweihe. Der Zusammenbruch des Dritten Reichs hinterließ bei ihm eine Art geistiger Leere, die bei Kaufmann zu einer Auseinandersetzung mit der Ideologie des NS-Staates führte, aber auch zu einer Hinwendung zu dem ihm bis dahin fremden Christentum. Er nahm seit 1946 an einem christlichen Hauskreis teil, entdeckte einzelne Schriften Dietrich Bonhoeffers, führte einen Briefwechsel mit dem katholischen Theologen Arthur Gibson und ließ sich 1947 von dem damaligen Studierendenpfarrer Heinz Zahrnt in Kiel konfirmieren.
Das Studium in den Fächern Deutsch, Religion und Philosophie – u. a. bei Gerhard Bohne – beendete er 1954 – etwa zeitgleich mit einer Promotion über »Grundfragen der Erziehung bei Luther« unter der Ägide von Fritz Blättner, einem Schüler Wilhelm Flitners, sowie der ersten Staatsprüfung. Sein Referendariat absolvierte er anschließend an einem Gymnasium in St. Peter Ording, 1956 legte er zudem das erste theologische Examen in Kiel ab. Im Schuldienst stand er zwischen 1957 und 1959. Anschließend wurde er Assistent am Pädagogischen Institut, 1962 Dozent und Professor an der Pädagogischen Hochschule in Kiel. Es folgte der Wechsel auf die Rektorenstelle am Religionspädagogischen Institut (RPI) der Hannoverschen Landeskirche in Loccum, dem er von 1966 bis 1972 vorstand. 1972 wurde er zum Leiter des Comenius Instituts der EKD in Münster berufen. Diese Position bekleidete er, bis er 1990 in den Ruhestand trat. Im Jahr 1972 wurde er auch zum Honorarprofessor der Evangelisch-Theologischen Fakultät ernannt.
Als Rektor im RPI Loccum organisierte Kaufmann 1966 eine Tagung, deren Bedeutung für die Ausrichtung der Religionspädagogik im 20. Jahrhundert nicht hoch genug veranschlagt werden kann (Thorsten Knauth, Michael Meyer-Blanck): Klaus Wegenast und Kaufmann zeigten verschiedene Wege auf, mit dem der in die gesellschaftsöffentliche Diskussion geratene Religionsunterricht reformiert werden sollte. Wegenast trug erstmals zur empirischen Wende vor, Kaufmann referierte zum Thema »Muß die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen?«. Er erläuterte in sechs Thesen, inwiefern der Umgang mit der Bibel bzw. biblischen Traditionen nicht länger der Alltagswelt der Schülerinnen und Schüler wie ein hieratischer Fremdkörper gegenüberstehen dürfe, sondern auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu beziehen sei. Kaufmann bediente sich u. a. Ansätzen der existentialen Interpretation Rudolf Bultmanns, aber auch deren Weiterführung bei Ernst Fuchs und Eduard Schweizer, Elementen der Konzeption des hermeneutischen Religionsunterrichts, die er insbesondere von Martin Stallmann übernahm, sowie Dietrich Bonhoeffers Ausführungen zur nicht-religiösen Rede von Gott. Seinen theologischen Zugriff verband er mit Überlegungen zur politischen Relevanz des Religionsunterrichts in einer globaler werdenden Gesellschaft, deren materielle, aber auch symbolische Ressourcen ungerecht verteilt waren. Die Verbindung zwischen theologisch-hermeneutischer Grundlegung und gesellschaftspolitischem Anspruch übernahmen pädagogische und didaktische Konzepte, die den Prozesscharakter der doppelseitigen Erschließung der Lebenswirklichkeit von Schülerinnen und Schülern (Wolfgang Klafki) betonten sowie Vorstellungen des »genetischen Lehrens« (Martin Wagenschein) aufnahmen: Unter welchen anthropologischen und sozial-kulturellen Bedingungen entdecken Kinder oder Jugendliche »neue Möglichkeiten der Verwirklichung menschlichen Lebens?«
Der von Kaufmann seither in mannigfachen Unterrichtsentwürfen vorangetriebene Ansatz des thematisch-problemorientierten Unterrichts nahm in den 1970er Jahren in der schulischen Praxis Einflüsse auf, die Kaufmann nicht gutheißen konnte. Die aus dem amerikanischen Pragmatismus stammende Orientierung am Curriculum, die einzelne Lernziele in immer kleinere und konkretere Ziele unterteilte, um sie im Unterricht abzuarbeiten, kritisierte er ebenso wie eine ausschließliche Fokussierung auf die Lebenswirklichkeit von Schülerinnen und Schülern, die auf einen Verzicht der Auseinandersetzung mit biblischen, aber auch theologischen Gehalten hinauslief. Rückblickend diskutierte er später, ob die Lehrkräfte nicht ihre eigenen politischen Ziele und Vorstellungen über die alltagsweltlichen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler gestellt hätten. Dass eine gute Theorie nicht an ihrer schlechten Praxis zu messen ist, darauf macht die These von dem »unabgegoltenen Potenzial des problemorientierten Unterrichts« (Knauth) aufmerksam.
In bildungspolitischer Hinsicht engagierte sich Kaufmann für die Verbindung von Religion als Grundrecht (nach Artikel 4) mit dem den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach ausweisenden Artikel 7 (3) des Grundgesetzes. Religionsunterricht ist kein Privileg der Kirchen, sondern Ausdruck der Zusammenarbeit des Staates mit den in der Gesellschaft vertretenen religiösen Gemeinschaften und weltanschaulichen Gruppen.
Als Direktor des Comenius-Instituts wandte sich Kaufmann später gemeindepädagogischen Fragen zu und initiierte Forschungsvorhaben aus dem elementarpädagogischen Bereich. 1982 begründete er die Christliche Initiative Brennpunkt Erziehung mit.
1989 kehrte er noch einmal zu seinen (religions-)pädagogischen Anfängen zurück. Sein in der Festschrift für Wegenast erschienener Aufsatz über Martin Luther als Erzieher greift Themen seiner Promotionsschrift auf und entfaltet deren wesentlichen Einsichten an Luthers Katechismus. Der Katechismus spricht nicht abstrakt über den Glauben, sondern entfaltet ihn im Leben; er gilt ihm als gelungenes Modell der Elementarisierung von Glauben und biblischen Texten. Auch weist Kaufmann darauf hin, dass – nach Luther – die Erziehung zwar als weltliches Ding zu betrachten sei, sie sich aber zugleich verändere, wenn sie als Werk des Glaubens der Eltern und Erzieher wahrgenommen wird. Luthers Rechtfertigung unterscheide beide Ebenen wirksam voneinander, trenne sie aber nicht.
Dem späten Kaufmann war wie dem frühen Kaufmann die Einsicht wichtig, dass man die biblisch-christliche Überlieferung Kindern und Jugendlichen nur nahebringen kann, wenn man selbst an ihr teilnimmt und sie mit anderen teilt. Dass davon auch sein religionspädagogisches Engagement in den 1960er und 70er Jahren geprägt war, das den damaligen gesellschaftspolitischen Veränderungen konstruktiv zu entsprechen suchte (Bernhard Dressler), macht die bleibende Bedeutung Hans Bernhard Kaufmanns aus.

Prof. Dr. Lutz Doering
Dekan der Ev.-Theol. Fakultät der Westf. Wilhelms-Universität Münster

Prof. Dr. Antje Roggenkamp
Studiendekanin der Ev.-Theol. Fakultät der Westf. Wilhelms-Universität Münster