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Ausgabe:

März/2008

Spalte:

303–305

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Mostert, Walter]

Titel/Untertitel:

Jesus Christus – Anfänger und Vollender der Kirche. Eine evangelische Lehre von der Kirche. Hrsg. v. J. Bauke-Ruegg, P. Koller, Ch. Möller u. H. Weinacht auf Grund d. Manuskripts einer Vorlesung über »Kirche, Taufe, Abendmahl (Ekklesiologie und Sakramentenlehre)«, die Prof. Dr. Walter Mostert im WS 1993/94 an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich hielt.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2006. 172 S. m. 1 Porträt. 8°. Kart. EUR 15,40. ISBN 978-3-290-17375-3.

Rezensent:

Christof Gestrich

Unter den zahlreichen ›Ekklesiologien‹, die kontinuierlich auf dem Büchermarkt erscheinen, ist dieser Entwurf ein besonderer. Er wurde in ziemlich mühevoller Textrekonstruktion aus dem Nachlass des 1995 im Alter von 58 Jahren überraschend früh verstorbenen evangelischen systematischen Theologen Walter Mos­tert veröffentlicht. Zu Grunde lag das Manuskript einer Vorlesung, die der ›eindrucksvolle evangelische Lehrer‹ im Wintersemester 1993/94 an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich gehalten hat. Die postume Veröffentlichung, die Christian Möller zum 70. Ge­burtstag des Verstorbenen in der genannten Fakultät vorgestellt hat, enthält auch eine kleine Editionsgeschichte des Textes sowie studentische Erinnerungen an M.s Person und Vortragsweise.
Das Besondere dieser Lehre von der Kirche besteht nicht zuletzt in ihrer Leidenschaftlichkeit, mit der sie Wege und auch (z. B. ›politisierende‹) Abwege der evangelischen Kirche in der Gegenwart darstellt. Immer wieder prangert M. auch ›leere Modernismen‹ an. Er ruft zur genuin reformatorischen (lutherischen) Sicht der Kirche zurück, die in unseren Breiten »unentwegt« schwinde.
Heute ist die Kirche »medienpräsent wie nie zuvor, sie nimmt Stellung zu all und jedem und auf all und jede denkbare Weise ..., und zugleich schwindet sie auf geheimnisvolle – oder vielleicht doch ... sehr wohl erklärbare ... Weise dahin«. Es besteht eine »merkwürdige Parallele zwischen hektischer politischer, sozialer, ethischer Betriebsamkeit der Kirche und ihrem Schwund ...«. Eine ebensolche Parallele bestehe »zwischen der neureligiösen Betriebsamkeit der Kirche und ihrem Schwund« (20). Aber auf der anderen Seite: Wenn die sage und schreibe 30000 evangelischen Theologinnen und Theologen im deutschen Sprachbereich »Kirche bilden wollten auf der Basis der Sprache des Evangeliums, wenn sie also nicht die Akzeptanz des modernen Menschen, sondern die Wahrheit des Glaubens zu ihrer gemeinsamen Sache machen wollten«, dann würde dies »auch heute vernommen und ... ernst genommen...« (161).
Konventionelle dialektisch-theologische Sprache und evangelikaler Inhalt? Keineswegs! M. war ein sprachlich unprätentiöser, aber konstruktiver, in den neuzeitlichen Problemlagen von Theologie und Kirche bestens bewanderter, die Bibel historisch-kritisch lesender Systematiker. Seine Vorlesung setzt ein mit der Frage, wo­für es Kirche überhaupt gibt und was sie aus ihrem neutestamentlichen Bestimmungsgrund heraus ist. Von ihrer öffentlichen Er­scheinung als »sekundäre Institution« im Sinne einer budgetierten öffentlichen Dienstleistungseinrichtung unterscheidet M. sofort die »primäre Institution« Kirche, deren Kern der Gottesdienst ist. Das gottesdienstliche Zusammentreten als Leib Christi am gegebenen Ort ist das ekklesiologische Zentralgeschehen. M.s Lehre von der Kirche geht strikt von ihrem christologischen Kern aus. Sie setzt allerdings ›technisch‹ ein mit grundsätzlicheren Ausführungen zum evangelischen Theologieverständnis. Dann geht sie weiter zum neutestamentlichen ecclesia-Begriff, zu den Erkennungsmerkmalen der Kirche (notae ecclesiae), zu den vier grundlegenden Wesensmerkmalen oder »Kirchen-Attributen« (una, sancta, catholica, apostolica), zur Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche und schließlich eben zum Gottesdienst mit Predigt, Abendmahl und Taufe (Letztere wurde am Semesterende nur noch ganz knapp dargestellt). Dabei sind oft auch Fragen der heutigen ökumenischen Situation berührt sowie die Frage eines angemessenen Verständnisses des kirchlichen ›Amts‹, die am Sakramentsverständnis zu klären sei.
Gespür und theologische Verantwortung für die Gegenwart zeigt M. am meisten dort, wo er überraschende dogmatische Entscheidungen trifft. Da findet sich zunächst eine Schleiermacher in nichts nachstehende unbefangene Verwendung des Begriffs Religion. Weder Luther noch die dialektische Theologie haben hier ›Pate gestanden‹. An Stellen, wo man eher hätte vermuten können, dass von M. fundamental über den Glauben der Christen gesprochen würde – M. hat seine Theologie in jahrelanger Arbeitsgemeinschaft mit Gerhard Ebeling entwickelt! –, wird zunächst ausführlich über Religion gehandelt:
Religion sei »einfach« zu definieren! »Religion ist Gottesverhältnis des Menschen, der natürlich auch in anderen Verhältnissen lebt: zu sich selbst, zum Mitmenschen, zur Welt – Natur usw. In der Religion wird dies alles als Gottesverhältnis gelebt.« »Es ist für die Religion kennzeichnend, dass Religion Gemeinschaft bildet [stimmt das so generell? C. G.], indem sie Menschen zum gemeinsamen Gottesverhältnis zusammenschließt.« Das Christentum selbst sei keine neue Religion, eher könne man es als eine »reformatorische Bewegung« innerhalb der Welt der Religionen auffassen. Kirche bedeute dann, wie zunächst jede Religionsgemeinschaft, »eine von Gott her bestimmte Gemeinschaft von Menschen mit sich« (nämlich mit Gott). Gleichzeitig ist Kirche, wie zunächst jede Religionsgemeinschaft, »eine von Gott her bestimmte Gemeinschaft zwischen Menschen untereinander«. So kommt es zu dem Satz: »Religiöse Gemeinschaft ist gemeinschaftliche Gemeinschaft mit Gott.« M. bemerkt kritisch, dieses »mit Gott« werde heute oft vergessen (35). Wird nun die Religion in spezifisch christlicher Optik wahrgenommen und gelebt, so gilt abschließend: »Kirche ist die Gemeinschaft der im Glauben an Jesus Christus an Gott Glaubenden« (55; vgl. 105).
Auffallend ist, dass M. von einem allgemeinen Religionsbegriff ausgeht. Bewusst erst von hier aus kommt M. weiter – allerdings dann ausführlich – zum Begriff des Glaubens. Was Glaube ist, das erscheine in seiner reinsten Gestalt am Gottesverhältnis Jesu Chris­ti. Dies bedeutet auch: »Das Sein Jesu ist das Versöhntsein« (132). Am Glauben und Sein Jesu Christi lässt sich im Übrigen klar erkennen, was nur scheinbare Religion, Quasi- und Dysreligion ist. Der Unterschied dokumentiert sich an der Wahrheitsfrage. Alle Theologie muss diese Frage gemeinsam mit aller Philosophie (!) stellen, während sie, Theologie und Philosophie, Lebenserfahrungen auslegen. Dabei taucht dann an einem bestimmten Punkt immer das Problem auf, wie man es denn mit dem Letzten bzw. dem Absoluten hält. Wird das Vorletzte mit dem Letzten verwechselt? Wird in dieser Weise das ›Erste Gebot‹ verletzt? Wie ist solchen Verletzungen und Verwechslungen heilsam und im Interesse der Wahrheit zu begegnen? An dieser Stelle mischt sich der am Gottesverhältnis Jesu orientierte Glaube in die Philosophie ein. Theologie muss immer philosophieren! Die nicht echten Religionen werden daran erkannt, dass sie Gott nicht Gott sein lassen. Sie überhöhen den Menschen und sie ›instrumentalisieren‹ für diesen Vorgang Gott. Sie stoßen nicht durch bis zur heilsamen göttlichen Aufhebung menschlicher Verlorenheit bzw. bis zur Versöhnung. Diesbezüglich ist aber das Christentum die Wiederherstellung aller Religion »aus der Frage nach der Wahrheit des Gottesverhältnisses heraus« (41). M. kann von hier aus unterstreichen, dass es in der Kirche in erster Linie um die Wahrheit gehe! Auch die Einheit der Kirche, die uns gerade heute ökumenisch so stark beschäftigt, dürfe nicht an der Wahrheitsfrage vorbei gesucht, sie müsse als Wahrheitsfrage angegangen werden (64).
Dogmatisch Neues findet sich auch in M.s Lehre von den Sakramenten. Mit einem kleineren Kreis evangelischer Theologen be­zeichnet er Jesus Christus als das »Ursakrament«. Von diesem leitet er vier sakramentale Handlungen der Kirche ab: Predigt, Abendmahl, Taufe, Gebet (132)! Er kann aber auch sagen: Die eigentliche ›sakramentale Handlung‹ ist der Glaube als die Hinnahme des Für-uns-Seins Jesu Christi (ebd.). Der Glaube »verdichtet« sich aber in den vier sakramentalen Handlungen.
Obzwar M.s Abendmahlslehre sich an Luther und nicht am reformierten Duktus orientiert, teilt M. doch mit Letzterem die Wertschätzung der Epiklese. Sie wird nicht gedeutet als Bitte um die Herabkunft des Heiligen Geistes auf die Gaben, sondern auf die Kommunikanten (148). Andererseits wird gegen einen isolierenden Sakramentalismus traditionell lutherisch gesagt: Taufe und Abendmahl müssen sich in den Inhalt der christlichen Predigt einfügen, sie sind je eigene ›Momente‹ des zu predigenden Evangeliums (149 f.).
Die Predigt selbst hat die Aufgabe, für eine hörende Gemeinde immer neu die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium durchzuführen – und nicht einfach Moral zu predigen. Im Ergebnis soll jede Predigt die von Jesus Christus ausgehende Vergebung der Sünden zusagen. Denn um ihretwillen, sagt M., gibt es die Kirche überhaupt (152 ff.). In der Einheit von Predigt und Sakrament sieht M. eine Verklammerung der beiden Bewegungen des In-Christus-hinein-Gehens (aktiv) und des Auf-uns-wirken-Lassens (passiv) dessen, was Christus für uns ist und tut (54). Mit dieser »Rahmenskizze« wären nach M.s Meinung noch weitere chris­tologische Entdeckungen zu machen: z. B. solche, die uns die soteriologische Bedeutung der ›Sündlosigkeit Jesu‹ besser erschließen. Einiges blieb hier aber in Andeutungen stecken.
Es ist nicht anzunehmen, dass M. der Buchveröffentlichung seiner Ekklesiologie-Vorlesung zugestimmt hätte. Sie wäre ihm selbst als noch nicht ausgereift erschienen. Sehr kritische Äußerungen zur katholischen Mariologie und Lehre von den Heiligen insgesamt, aber auch zum katholischen Amtsverständnis, könnten als antiökumenische Überspitzungen erscheinen. Aber M. ist im Ge­genteil am fundierten theologischen Gespräch mit dem Katholizismus höchst interessiert. Er hätte als wirklicher Kenner der katholischen Kirche dazu beitragen können.
Das Buch ist auch nicht dagegen geschützt, Beifall oder Kritik ›von der falschen Seite‹ erhalten zu können. M. schrieb manchmal deutlich gegen eine eigene Resignation hinsichtlich der heutigen Kirchen an. Unter den Studierenden (und wohl auch bei sich selbst) wollte er wieder »Zuversicht und Vertrauen« wecken (160). Wer es bedauert, M.s eigene Theologie aus diesem Text nicht noch genauer rekonstruieren zu können, sei auf einen doch sehr charakteristischen Exkurs innerhalb dieser Ekklesiologie hingewiesen. Es handelt sich um eine ins Grundsätzliche gehende Auseinandersetzung mit David Friedrich Strauß (112–124). Mit spürbarem Herzschlag befasst M. sich hier mit einer Theologie und ihrer Wirkungsgeschichte, von denen er eine neue Babylonische Gefangenschaft ausgehen sah: nämlich die der modernen evange­lischen Theologie und Kirche.