Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

808 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Leinkauf, Thomas

Titel/Untertitel:

Nicolaus Cusanus. Eine Einführung.

Verlag:

Müns­ter: Aschendorff 2006. 235 S. gr.8° = Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, 15. Kart. EUR 24,80. ISBN 3-402-03171-X.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

An Einführungen zu Leben, Werk und Wirkung des Nikolaus von Kues ist gegenwärtig kein Mangel. Erich Meuthen (1992), der Rezensent (1995, 1997) Kurt Flasch (2001) und Norbert Winkler (2001) haben in den letzten Jahren solche vorgelegt. Die hier zu besprechende unterscheidet sich von ihnen vor allem darin, dass sie kaum auf das Leben des Nikolaus von Kues eingeht, sondern sich auf seine Gedankenwelt beschränkt – und zwar auch nur auf ein Thema, nämlich »Geist« (29–121), und auf daraus folgende »Perspektiven«, und zwar »Gott« (122–153), »Welt« (154–181) und »Mensch« (182–203). Der Leser soll »weder eine Interpretation des gesamten cusanischen Denkens ... noch eine genetische Entfaltung seines Denkens« erwarten, sondern eher eine systematische Rekonstruktion seiner Philosophie (11). Die cusanische Theologie wird kaum berücksichtigt.
Zum Thema Nachwirkung flicht L. in den laufenden Text mitunter Vergleiche ein, vor allem zu Philosophen der Neuzeit (Des­cartes, Leibniz). Hier kommt das eigentliche Forschungsgebiet L.s zu Wort, in der Cusanus-Forschung ist er bisher wenig hervorgetreten. Man muss bedauern, dass L. sich kaum mit der Forschung zum Leben von Nikolaus von Kues befasst hat. Das erweist sich u. a. in der Behauptung (25): »Cusanus ist früh, durch seine Ausbildung in Deventer, mit den spätmittelalterlichen Spielarten der ... ›mystischen Theologie‹ bekannt geworden«; ein Studienaufenthalt in Deventer (bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben) ist nicht nachweisbar. Ein Blick in die Acta Cusana hätte hier genügt.
Aber nicht die Lebensumstände von Nikolaus von Kues interessieren L., sondern vor allem, was Geist (mens) bei Nikolaus von Kues bedeutet. Von diesem Grundgedanken aus sieht L. bei ihm »ein deutliches Bewußtsein dafür, worin das die Philosophie tragende, natürliche Sichselbstvollziehen menschlichen Bewußtseins (mens) fundiert ist«. Er bemerkt bei Nikolaus von Kues, dass das »intuitive ›Wissen‹ um Gott und das propositional Wissbare« auseinanderfallen, der Mensch weiß um sein problematisches Wissen von Gott. Kaum Recht hat L. mit der Behauptung, Nikolaus von Kues meine, es gelänge dem Menschen, »etwas (rational) Unerfaßbares im Medium einer sich faßlich machenden Selbstmitteilung (das Leuchten) zu erfassen« (36.40–42). Ist nicht das belehrte (nicht: gelehrte) Nichtwissen bei Nikolaus von Kues ein Gottesgeschenk, wie er es am Schluss von De docta ignorantia betont? Zuzustimmen ist dagegen L., wenn er zwischen dem unendlichen Geist, der Gott ist, und »dem diesen nur abbildenden, nicht selbst unendlichen Geist« von Engeln und Menschen unterscheidet, zwischen einer »›mens per se‹ die von Gott als Bild seines eigenen absoluten Geistes geschaffen worden ist, ... und einer ›mens in corpore‹ ...« (47.50). Dieser Geist will sich zur Unendlichkeit erheben (61). Einmal spräche Nikolaus von Kues dem Geist die Fähigkeit ab, etwas zu schaffen, er könne vielmehr nur Vorgegebenes reproduzieren, dann aber rückt er ihn ganz nah an den göttlichen Geist heran (75). Es ist der Geist, der die Welt als Universum denkt; sie ist als Einfaltung »die Explikation unendlicher Vielfalt und Varietät« in sich (101). Mit dem Gedanken von complicatio-explicatio beschreibt Nikolaus von Kues die Ursache-Wirkung-Verhältnisse und macht an ihnen »den Einheitscharakter der Ursache gegenüber der Vielfalt des durch sie Bewirkten« fest (110).
Vom Thema »Geist« her will L. nun Folgerungen ziehen, nämlich »daß der Geist oder menschliches Erkennen ... alles, was er/es erkennt, aus einer bestimmten Position heraus erkennen muß« (119). Zum Stichwort »Gott« meint Nikolaus von Kues, dass Trinität nicht gedacht werden kann, »ohne daß in ihr das Erste als Einheit gesetzt wird«. L. beruft sich auf Flasch, dass die »›denkende Selbsterfassung‹ des Menschen ›zur strikten Vorbedingung jeder Gotteserkenntnis‹ wird«. Muss dies nicht aber genau umgekehrt gesagt werden (122)? Wie stark Nikolaus von Kues die Gotteserkenntnis bewegt, zeigt sich daran, dass er immer wieder nach dem rechten Gottesnamen gesucht hat, wohl wissend, dass Gott letztlich unbenennbar ist, kein Name sein eigentliches Wesen erreichen kann (135). L. macht zu Recht deutlich, dass die Aussage, Gott sei »alles in allem« im Licht der Transzendenz gesehen werden muss (151).
Im Hinblick auf das Stichwort »Welt« betont L., dass Nikolaus von Kues ihre »begrenzte Unendlichkeit« lehrt und von daher die Aussage zu verstehen ist, jedes Geschöpf sei ein »geschaffener Gott« (170). Das leitet über zum Stichwort »Mensch«, der, als »creatura mixta« verstanden, im Licht der filiatio Dei zu begreifen ist (184. 188). Zur Christologie meint L., Nikolaus von Kues stelle diese »in einen allgemein-ontologischen, nicht nur einen spezifisch christlichen heilsgeschichtlichen Kontext«. Weil Gott »alles in allem« sei, koinzidieren Christologie und Anthropologie. Beide könnten nicht voneinander getrennt werden. So schließe sich »der Kreis von Theo­logie, Kosmologie und Geisttheorie« (194.210).
Es ist richtig, die cusanische Philosophie ist christlich fundiert und doch zugleich für Nichtchristen rezipierbar, sie will die »Grundlage des Glaubens rational vermitteln« (204).
L. bezeichnet sein Buch als »eine Einführung«. Dieser Wertung ist nur höchst eingeschränkt zuzustimmen, einmal, weil es schwer zu lesen ist (der Rezensent hat Sätze von 14 Zeilen Umfang gefunden), dann, weil zu viel vorausgesetzt wird (z. B. was über Wenck von Herrenberg geschrieben wird, 144) und weil die Themen nur einen, wenn auch wichtigen, Ausschnitt cusanischen Denkens behandeln. Eine Einführung müsste mehr über die Lebensumstände berichten. Eine stärkere Berücksichtigung der Predigten wäre zu wünschen gewesen. Doch enthält das Buch sehr zu bedenkende Passagen zum Thema »mens«. So bleibt der Gesamteindruck zwiespältig.