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Ausgabe:

Februar/2007

Spalte:

148-150

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Hachlili, Rachel: Jewish Funerary Customs, Practices and Rites in the Second Temple Period.

Titel/Untertitel:

Jewish Funerary Customs, Practices and Rites in the Second Temple Period.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2005. XL, 588 S. m. zahlr. Abb. u. Tab. u. 74 Bildtafeln im Anhang. gr.8° = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 94. Lw. EUR 179,00. ISBN 90-04-12373-3.

Rezensent:

Jürgen Zangenberg

Gräber gehören zu den komplexesten und derzeit am meisten diskutierten Themen in der Altertumswissenschaft. Wie kaum eine andere archäologische Fundgattung laden sie durch ihren Inhalt und ihre Form dazu ein, aus verschiedenen Perspektiven Überlegungen zur Sozialstruktur, zu Riten oder religiös-weltanschaulichen Vorstellungen der sie tragenden Gesellschaft anzustellen. Es verwundert daher nicht, dass Gräber seit den frühen archäolo gischen Untersuchungen in Palästina im 19. Jh. zu den allerersten Fundgattungen gehörten, die von der Wissenschaft als Zeugnisse jüdischen Glaubens und Lebens untersucht wurden. An diesbezügliche Pionierleistungen in und um Jerusalem von Conrad Schick, Charles Clermont-Ganneau oder Kurt Galling sei hier nur erinnert. Vor allem durch Baumaßnahmen, aber auch durch gezielte Suche ist das Material in den letzten Jahren dramatisch angewachsen, neue Fundorte mit ganz eigenen Problemen kamen hinzu (Qumran, Jericho; En-Gedi). Breit angelegte Surveys halfen, die materiellen Hinterlassenschaften jüdischer und nichtjüdischer Funeralkultur über einzelne Fundorte hinaus flächendeckend zu erfassen (z. B. Kuhnen zum Karmelgebiet). Dennoch mussten bisher zahlreiche Fragen vor allem zu rituellen und religiösen Aspekten offen bleiben, da nur ganz wenige aus der riesigen Zahl untersuchter Gräber mit ihrem gesamten, ungestörten Inventar auf uns gekommen sind.

Es ist das große Verdienst von Rachel Hachlili, Professor am Department of Archaeology der Universität Haifa, dass sie mit dem vorliegenden Band das ins schier Unermessliche angewachsene Material systematisch aufgearbeitet und in einer bisher nicht da gewesenen Gründlichkeit monographisch erschlossen hat. Dabei stützt sie sich neben Berichten anderer Forscher auf ihre Grabungen in En-Gedi und eigene Vorarbeiten, die in aktualisierter Form in den vorliegenden Band eingegangen sind. H.s Studie beschränkt sich auf Palästina (die Diaspora begegnet nur ganz am Rande) und die Zeit zwischen dem Ende des 2. Jh.s v. Chr. bis zum Ende des 1.Jh.s n. Chr. (xxxvii). Sie entfaltet das Material in 12 Kapiteln, die in sich zwar selbstständig sind, sich mitunter aber überschneiden. Im ersten Kapitel gibt H. einen Überblick über die Gestalt einzelner Friedhöfe, ihre Lage und Funde (1­27: »Cemeteries« z. B. zu Jerusalem, Jericho, En-Gedi, Qumran). Das zweite Kapitel behandelt die unterschiedlichen Architekturelemente und Dekorationsformen von Felskammergräbern (29­73: »Architecture of Rock-Cut Tombs«), das dritte Kapitel widmet sich den Behältnissen von Bestattungen (75­126: »Internment Receptacles« zu Särgen, Ossuarien und Sarkophagen), im vierten Kapitel steht die Grabkunst im Mittelpunkt (127­162: »Funerary Art« u. a. zu Ornamenten, Malereien, Graffiti, Dekoration von Grabbehältnissen), das fünfte Kapitel befasst sich mit Inschriften (163­233: »Inscriptions« u. a. zur Namenkunde). Auf diese mehr deskriptive Bestandsaufnahmen folgen zwei Kapitel mit stärker sozialgeschichtlicher Thematik. Kapitel 6 untersucht Familiengräber nach den in ihnen zum Ausdruck kommenden sozialen Strukturen (235­310: »Family Tombs«) und Kapitel 7 befasst sich mit der Rolle von Frauen in der materiellen Funeralkultur (311­337: »Women«).

Die folgenden drei Abschnitte kehren wieder in den eher materiellen Bereich zurück. Kapitel 8 greift ein Thema auf, das in jüngs ter Zeit von Lothar Triebel monographisch untersucht wurde (339­353: »The Nefesh«). Kapitel 9 fragt nach denen, die Ossuare und Sarkophage hergestellt haben (355­374: »Workshops and Craftsmen«­ Gräber?). Erst in Kapitel 10 steht der materielle Inhalt von Gräbern zur Debatte (375­446: »Grave Goods«; menschliche Reste werden auf S. 529­542 im »Appendix: Anthropological Notes and Tables« behandelt). In Kapitel 11 wertet H. das Material im Hinblick auf Bestattungssitten und -riten aus (447­516: »Funerary Customs and Rites«). Im letzten Kapitel behandelt H. die Chronologie der Gräber und fasst die Ergebnisse zusammen (517­528: »Chronology and Conclusions«). Eine ausführliche Bibliographie (545­571) sowie ein Sach- bzw. Quellenregister (573­588) schließen den Band ab.

Während manche Forscher Gräber etwas euphorisch als »Spiegel des Lebens« ansehen, warnen andere m. E. zu Recht vor einer allzu linearen Ausdeutung funeraler Befunde und fordern intensive methodische Reflexion. Bereits auf der ersten Seite ihrer Darstellung unterstreicht H., dass »(r)esearch into burial practices and the material remains of mortuary rituals is effective in reconstructing the history of a society, its religious beliefs and its social outlook« (xxxv). So sehr man H. hier zustimmen möchte, so unklar bleibt, auf welcher theoretischer Basis die folgenden, das grundsätzliche Statement entfaltenden Ausführungen beruhen. Wenn man an H.s Buch Kritik üben möchte, was angesichts der meisterlichen Beherrschung des Materials nicht leicht fällt, dann vor allem am Mangel an Interdisziplinarität. Fragen von Status, Ethnizität, Identität, Ideologie, Ritual und Praxis werden zwar erörtert, doch selten im Dialog mit anderen Altertumswissenschaften, und kaum werden Wege aufgezeigt, wie man im Dialog mit Texten und Funden methodisch reflektiert bestimmte Aussagen machen kann.

Fragen nach der rituellen und weltanschaulichen Aussagekraft von Grabgütern (Gebrauchskeramik in Gräbern, Münzbeigaben), nach der »Normativität« bestimmter Grabformen (Kammergräber versus Schachtgräber), der Einzigartigkeit bzw. Einbettung jüdischer Funeralkultur in Bestattungspraktiken anderer indigener Völker des hellenistisch-römischen Ostens laden zur interdisziplinären Diskussion geradezu ein. Neue Studien (u. a. Magness, Regev) sind hier ­ m. E. zu Recht ­ viel eher bereit, Einflüsse von außen in Betracht zu ziehen und die jüdische Grabkultur nicht als allein religiös bestimmte Domäne zu sehen, sondern eine enge Rückkopplung mit gesellschaftlichen Veränderungen zuzugestehen. Das Postulat einer »normativen Bestattungsform« (526 u. ö.) halte ich für ebenso fraglich (die Schachtgräber von Qumran sind eben keine sektarisch motivierte »Ausnahme« von der familienbezogenen »Re gel« der »Familiengräber«) wie die entscheidende Rolle, die H. dem Auferstehungsglauben beim Wandel von der Primär- zur Zweitbestattung in Ossuaren und damit bei der Verschiebung in der jüdischen Funeralkultur des 1. Jh.s v./n. Chr. insgesamt zuweist. Bei H. scheinen sich mitunter doch auf bestimmten Texten gegründete, traditionelle Deutungen vor den archäologischen Befund zu schieben, der sich jedoch oft genug gegen allzu schnelle Generalisierungen sperrt.

Insofern gibt es trotz H.s fast unübertroffener Gründlichkeit in der Materialbearbeitung durchaus noch einiges zu tun. Niemand aber, der in Zukunft das Thema antik-jüdischer Funeralkultur angeht, wird an H.s Buch vorbeikommen. H. hat ein Standardwerk vorgelegt, das eine schmerzliche Lücke schließt, Pfade durch unzählige Fundplätze und oft nur auf Hebräisch erschienene Vorberichte bahnt und in Zustimmung und kreativem Widerspruch zur Wei terarbeit anregt.