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Ausgabe:

Dezember/2004

Spalte:

1369–1373

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Knauth, Thorsten

Titel/Untertitel:

Problemorientierter Religionsunterricht. Eine kritische Rekonstruktion.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 397 S. gr.8 = Arbeiten zur Religionspädagogik, 23. Kart. Euro 56,00. ISBN 3-525-61491-8.

Rezensent:

Bernhard Dressler

Es geht in diesem Buch - eine vom Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg angenommene Habilitationsschrift - entschieden um mehr als um die im Titel angekündigte "kritische Rekonstruktion" des problemorientierten Religionsunterrichts. Nach einem 1. Teil ("Einleitung - Fragestellungen, Methoden und Forschungsüberblick") sowie dem den Schwerpunkt bildenden 2. Teil ("Rekonstruktion des problemorientierten Religionsunterrichts") hat die Arbeit ihren Zielpunkt in einem 3. Teil ("Das unabgegoltene Potenzial problemorientierten Religionsunterrichts"), einem Plädoyer für die Rückkehr zu einem gesellschaftskritischen Konzept religiöser Bildung, wie es Knauth zwar nach 1975 abgebrochen sieht, wie er es aber nach wie vor für angemessen und aktuell erachtet. Darauf wird zurückzukommen sein. Zunächst ist nur festzustellen, dass K. seinem Forschungsgegenstand positionell verpflichtet ist. Umso bemerkenswerter, wie es ihm im 2. Teil gelingt, nicht nur eine - wohl dem noch geringen historischen Abstand geschuldete - Forschungslücke zu schließen, sondern ein regelrecht spannendes Stück Fachgeschichte plastisch und gut lesbar vor das Auge auch desjenigen Lesers zu stellen, der sich an der schon im rekonstruktiven Teil erkennbaren Perspektive des Buches reibt. Überaus deutlich wird, wie in den Jahren zwischen 1965 und 1975 in "einzigartiger Intensität" (12) über den Religionsunterricht nachgedacht und gestritten wurde - im Übrigen eine Zeit mit tieferen und nachhaltigeren Wirkungen auf die Theorie wie auf die Praxis des gegenwärtigen Religionsunterrichts, als K. es selbst erkennen kann, weil er sich durch eine historische Legendenbildung (die neo-konservative "Tendenzwende" nach 1975 habe aus vornehmlich politischen Gründen den problemorientierten Religionsunterricht trotz seiner noch unausgeschöpften Potenziale abgewürgt) den Blick auf diesen Sachverhalt etwas verstellt.

Was will K. unter problemorientiertem Religionsunterricht verstanden wissen? In "erster Linie ... einen Theorietyp religionspädagogischen Handelns, aus dem eine Theorie der Bildung, des Lernens bzw. der Auswahl von Lerninhalten folgen kann" (28). Damit ist zugleich die mit dem problemorientierten Religionsunterricht überwundene stofflich-materiale Bestimmung religiöser Lern- und Bildungsgehalte zu Gunsten einer (lebensweltlich orientierten) themenzentrierten Didaktik im Blick. K. konzentriert das Blickfeld jedoch energisch auf die gesellschaftskritische Stoßrichtung des problemorientierten Religionsunterrichts als einer "Verbindung von politischem und religiösem Lernen in einem gesellschaftsbezogenen Ansatz von RU" (15). Schon hierin liegt eine gewisse grandiose Einseitigkeit. Dass auch andere als politisch-soziale, z. B. kulturhermeneutische Aspekte des Religionsunterrichts "gesellschaftsrelevant" sein können, kann daher undiskutiert bleiben. Gleichwohl: Diese Blickverengung, die dann vor allem auf den 3. Teil durchschlägt, beeinträchtigt den der historisch-systematischen Rekonstruktion gewidmeten 2. Teil kaum - hieran entscheidet sich bei aller Kritik die Qualität der mit dieser Arbeit vorgelegten Forschungsleistung.

K. gliedert seine Rekonstruktion in a) eine Kontextanalyse, b) die Darstellung der Konzeptions- und Diskussionsgeschichte und c) eine chronologische und systematische Erschließung des Forschungsfeldes. Dass die Anfänge des problemorientierten Religionsunterrichts in den Kontext des kulturellen Modernisierungsschubs der Jahre 1965 ff. und damit dann auch der dazugehörigen politischen Turbulenzen gehören, liegt auf der Hand. Wer wollte bestreiten, dass sie "nicht einfach disziplinintern verursacht" wurden (22)? Wie K. diesen Kontext darstellt, ist dann allerdings von erheblichem Erkenntnisgewinn. Präzise wird der erziehungs- und schulpädagogische Diskussionshintergrund ausgeleuchtet. Dass die Theologie in den 60er Jahren durch den "Übergang von einer existentialen Hermeneutik zu einer politischen Hermeneutik" (84) geprägt worden sei, ist freilich eine dem politischen Interesse K.s folgende Vereinseitigung. Historische Tiefenschärfe erlangt die im Begriff der zeitgeschichtlichen "Konstellation" konzentrierte Darstellung u. a. durch den Rekurs auf H. Fends sozialgeschichtliches Konzept der "Generationenlage" (53 f.) und die sozialisationstheoretischen Untersuchungen zur 68er-Revolte von Fend und M. Fischer-Kowalski. Analytisch zu kurz greift demgegenüber die Differenzierung des kulturellen Modernisierungsschubs dieser Jahre in eine "funktional-instrumentelle" und eine "emanzipative Seite" (22 u. 53). Damit wird ausgeblendet, dass die Ambivalenzen der Modernisierung in die Emanzipationsdynamik selbst eingelagert waren und die Befreiungsgewinne schon früh durch die z. B. von Th. Ziehe und K. Mollenhauer scharf herauspräparierten kulturellen Verödungen teuer bezahlt wurden. Auch die kritische Erziehungswissenschaft hat, indem etwa der Bildungsbegriff eskamotiert wurde, zu einer funktionalistischen Sicht der Schule beigetragen - und der problemorientierte Religionsunterricht geriet vor allem dort, wo er sich mit einer curriculumtheoretischen Lernzielorientierung verband, in diesen Sog (darauf hat nicht zuletzt H. B. Kaufmann seit 1971 hingewiesen).

K. verortet in den Jahren 1965-1975 die "Hauptphase" des problemorientierten Religionsunterrichts und unterscheidet darin fünf "Teilphasen": Vorformen - Initialphase - Aufschwung- Reflexion - Abschwung. Erst seit 1970 ist vom problemorientierten Religionsunterricht öffentlich als programmatischem Leitbegriff die Rede. Besonders interessant ist, wie K. die auch von anderen Autoren vertretene Auffassung überzeugend belegt, dass der Wechsel vom hermeneutischen Religionsunterricht zum problemorientierten Religionsunterricht nicht nur als radikaler Bruch zu begreifen ist (153 ff.): Der problemorientierte Religionsunterricht entwickelt sich aus dem Versuch, "das Anliegen des hermeneutischen RU ... stärker didaktisch zu bedenken" - wodurch der Perspektivenwechsel von der Traditions- zur Gegenwarts- und Schülerorientierung erzwungen wurde. K. kann pointiert formulieren, dass der problemorientierte Religionsunterricht als "Modernisierungsversuch des hermeneutischen RU" angestoßen wurde (164), dem anfangs nur noch eine konkrete sozialwissenschaftlich-empirische Grundlage gefehlt habe. Diese Sichtweise rückt die theologische Qualität der Debatten um den problemorientierten Religionsunterricht ans Licht, das gilt m. E. besonders für die Beiträge von H. B. Kaufmann und P. Biehl (bei dem sich der Impuls der hermeneutischen Theologie wohl am nachhaltigsten durch alle seitherigen Entwicklungen durchgehalten hat). Die "Vermittlung der existenziellen Bedeutung der biblischen Überlieferung in didaktischen Kategorien zu denken, die zugleich auch fachwissenschaftlich angemessen waren" (156) - hierin sieht K. zu Recht das besondere Verdienst von H. B. Kaufmann, dessen herausgehobene Rolle K.s Darstellung gerade deshalb angemessen akzentuiert, weil sie nicht der verkürzten "klassischen Lesart" (22, Anm. 8) folgt, die den Anstoß auf Kaufmanns berühmte "Thesen" von 1966 ("Muss die Bibel im Mittelpunkt des RU stehen?") reduziert. K. gibt kritisch zu bedenken, dass sich die Rezeption dieser Thesen (obwohl sie die Mittelpunkstellung der Bibel bekanntlich stofflich-material, nicht aber perspektivisch in Frage stellten) plakativ auf die Alternative zwischen "Problemorientierung" und "Bibelorientierung" zugespitzt habe (176 f.).

Insbesondere die Rekonstruktion der Loccumer Tagung von 1966 (171 ff.) ist ein kleines Kabinettstück. Für die Darstellung der von K. minutiös nachgezeichneten weiteren Entwicklungen- sowohl die konzeptionellen Ausdifferenzierungen als auch die wirkungsreiche Arbeit der verschiedenen Projektentwicklungsgruppen - fehlt hier der Raum. Von der parallelen Entwicklung der "Korrelationsdidaktik" auf katholischer Seite wird - verständlich angesichts der bearbeiteten Fülle an Stoff - nur in wenigen Randbemerkungen Notiz genommen. Weniger verständlich, warum die Rolle K. E. Nipkows vergleichsweise unterbelichtet bleibt - liegt das an der Integrationskraft seines konvergenztheoretischen Ansatzes? Mit der "Integration ... in andere didaktische Strukturen" hat sich für K. der "Abschied" vom problemorientierten Religionsunterricht vollzogen, weshalb er auch Biehls Votum für eine Verschränkung traditions- und symbolerschließender und problemorientierter didaktischer Strukturen eher reserviert begegnet (353 f.). Kann man sagen, der problemorientierte Religionsunterricht sei nicht an seinen "inneren konzeptionellen Schwächen" gescheitert, auch nicht an inneren Differenzen, sondern an einer massiven restaurativen Gegenbewegung (309)? Mir scheint diese Alternative allzu einfach, auch in Anbetracht einiger der von K. geschilderten Tendenzen etwa aus der Endphase der Religionspädagogik-Projektentwicklung in Norddeutschland (268 f.). Und diese These würde eine genauere Auseinandersetzung mit den Einwänden der Kritiker voraussetzen; vor allem deren theologischem Gehalt wird K. nicht wirklich gerecht, wenn er sie umstandslos einer neo-konservativen Tendenzwende zurechnet, oder wenn er z. B. Ch. Bizers Kritik an einer Verschleifung der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium im Emanzipationsansatz des problemorientierten Religionsunterrichts nur mit der Bemerkung kommentiert, Bizer habe den Emanzipationsbegriff "schlicht" durch den "christologisch begründeten Verheißungsgedanken" ersetzt (XXX).

Der 3. Teil mündet in das Plädoyer, "das emanzipatorische Projekt problemorientierten religiösen Lernens unter der leitenden Perspektive von Gerechtigkeit und Anerkennung weiterzuführen" (349). K. orientiert sich dabei - vor allem mit Bezug auf A. Honneth, aber auch auf neuere sozialethische Ansätze bei W. Härle und M. Rohloff - an den Debatten um die Verschiebung des gesellschaftstheoretischen Paradigmas von sozialer Gerechtigkeit auf kulturelle Anerkennung (336 ff.) und lehnt die Ablösung sozialstruktureller durch kulturalistische Theorien als falsche Alternative ab. Die "strukturbezogene Perspektive" des problemorientierten Religionsunterrichts müsse mit einer "kulturbezogenen Sicht" verschränkt und durch interreligiöses Lernen geöffnet werden (350); eine größere Kontextsensibilität helfe dabei, im Rahmen "kleinräumigerer und näherer" Perspektiven die Subjekte nicht zu überfordern (353). K. will dabei kein konzeptionelles Monopol für den problemorientierten Religionsunterricht beanspruchen. Er reklamiert ihn aber doch als Leitkonzept, wenn er die "problemorientierte Struktur quer durch die Dimensionen eines biblisch-hermeneutischen, symboldidaktischen und interreligiösen Lernens laufen" lassen will (354) - konsequenterweise, denn die integrativen Ansätze bedeuteten s. E. ja das Ende des problemorientierten Religionsunterrichts.

Wie aber soll sich die "Vollgestalt" (317 u. ö.) eines erneuerten problemorientierten Religionsunterrichts zu den ästhetischen bzw. performativen Dimensionen eines Religionsunterrichts verhalten, der sich auch als religiöse Sprach- und Zeichenlehre verstehen muss? Schließlich wurden in den vergangenen 25 Jahren in der Religionspädagogik doch auch andere als nur soziale und politische, vom problemorientierten Religionsunterricht nicht einlösbare Dimensionen von Religion wieder entdeckt: daseins- und kulturhermeneutische, phänomenologische, liturgische usw. Nicht nur kann kein einzelnes didaktisches Konzept der gewachsenen Bedeutungsfülle der Religion mehr gerecht werden. Sondern im Religionsunterricht geht es doch in erster Linie darum, die Welt und sich selbst deuten zu lernen, bevor daraus Handlungsimpulse entbunden werden (und zwar wahrscheinlich umso nachhaltiger, je weniger sie als ethische Imperative formuliert werden). Das braucht eine offenere Struktur als die, in der das Evangelium auf einen politischen und sozialen Handlungsimpuls reduziert wird mit dem Anspruch, "religiöse Inhalte aus der Irrationalität ausschließlich historischer Vorgaben herauszuholen" (!), und in der die Kommunikation des Evangeliums nur dann als gelungen gilt, wenn sie den Regeln der Diskursivität folgt (323). Hier nun steht der Rezensent etwas ratlos vor einem ihm fast anachronistisch erscheinenden Theorie- und Sprachgestus, der den Religionsunterricht thematisch im "Überschneidungsbereich von Persönlichem und Politischem" (320) verortet und ein "kritisches Profil" nur durch den thematischen Dreiklang "sozialethisch, gesellschaftsbezogen und politisch" (14) gewahrt sieht. Damit wird das gegenüber einer nur noch auf Funktionalität verpflichteten Gesellschaft ja nicht gering zu veranschlagende kritische Potenzial einer religiösästhetischen Bildung ebenso ausgeblendet wie die Wiederentdeckung der Religion als einer "besonderen Provinz im Gemüt". Lässt sich heute wirklich noch das Evangelium mit Emanzipation in jenem emphatischen Sinne gleichsetzen, der die "Dialektik der Aufklärung" schon einmal abdunkelte - nämlich in jenen um ihre theologische Dimension verkürzten Adaptionen der Kritischen Theorie in den Jahren zwischen 1965 und 1975? Und welcher Lernbegriff wird repristiniert, wenn der "Realitätsbezug", der "Ernstcharakter des Lernens" an die Stelle der "Künstlichkeit schulisch oder unterrichtlich konstruierter Aufgaben" treten soll und für ein auf die Realität gerichtetes "Problemlöseverhalten" plädiert wird (318)? - als könne und dürfe die Schule die Gegenstände des Lebens je anders als in ästhetisch-reflexiver Gebrochenheit thematisieren. Ich fürchte, hier wäre nun doch von der dem problemorientierten Religionsunterricht immer wieder nachgesagten und von K. vehement in Abrede gestellten Neigung zur Funktionalisierung der Religion zu sprechen.

H. B. Kaufmann und H. Gloy haben ein wohl nicht ohne Genugtuung formuliertes Vorwort vorangestellt. Das Buch ist nicht nur gut lesbar geschrieben, sondern auch überwiegend transparent gegliedert und sorgfältig lektoriert.