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Ausgabe:

November/2002

Spalte:

1196–1198

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Albertus Magnus. Zum Gedenken nach 800 Jahren. Neue Zugänge, Aspekte und Perspektiven. Hrsg. im Auftrag der Dominikanerprovinz Teutonia durch W. Senner unter Mitarb. von H. Anzulewicz, M. Burger, R. Meyer, M. Nauert, P. C. Sicouly, J. Söder, K.-B. Springer.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2001. XXX, 697 S. gr.8 = Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, N. F., 10. Geb. ¬ 89,80. ISBN 3-05-003563-3.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Auch wenn die abendländische Geschichtsschreibung nur wenigen den Beinamen "der Große" verliehen hat (der Herausgeber vergisst dabei Gregor den Großen), so trägt ihn Albert (= A.) schon seit Jahrhunderten, ohne dass die Philosophie- und Theologiegeschichte die ihm gebührende Anerkennung bisher gewährt hätte. Seit dem Mittelalter schon steht er im Schatten seines Schülers Thomas von Aquin. Erst heute besinnt man sich auf das, was A. nicht nur in Bezug auf die Naturwissenschaften, sondern auch in Bezug auf Theologie und Philosophie geleistet hat. Noch vor 20 Jahren hatte in einem Gedenkband zu seinem 700. Todestag H.-G. Senger die Rede vom "Albertismus" für nicht überzeugend gehalten,1 heute, so auch im vorliegenden Band, wird mehrfach dieser Ausdruck - und wie der Rez. meint, zu Recht, gebraucht.

Die folgenden Autoren sind mit Beiträgen vertreten: L. Honnefelder, J. Söder, U. R. Jeck, C. Rigo, A. Bertolacci, E.-H. Wéber OP, J. Aertsen, H. Anzulewicz, M. L. Führer, H.-U. Wöhler, M. Santos-Noya, G. Guldentops, S. Lipke, R. Schönberger, R. Saarinen, C. McCluskey, C. Trottmann, J. Müller, S. Ernst, F.-B. Stammkötter, M. J. Tracey, J. P. Pierpauli, H.-J. Schmidt, H. Stehkämper, R. Meyer, M. de Asúa, A. Paravicini Bagliani, P. Hossfeld, U. Lindgren, T. W. Köhler OSB, G. Emery OP, M. Olszewski, M. F. Hoenen, L. Hödl, R. Blasberg, K. Obenauer OP, U. Horst OP, P. Conforti, W. J. Hoye, L. Moonan, P. C. Sicouly OP, E. Schinagl, K.-B. Springer.

Ein Werkverzeichnis mit den entsprechenden Abkürzungen ist beigegeben, vier Register stehen am Ende.

Es seien nur zu den Beiträgen, die den Theologen besonders interessieren, einige Bemerkungen gemacht. Es fällt auf, dass gerade die Frage nach (Gottes-)Erkenntnis eine wichtige Rolle spielt. Der Gedanke des "Seins" gestattet es A., den Begriff "Seiendes" vom "ersten Seienden" her zu denken und in der Gotteserkenntnis keinen zweiten Teil der Metaphysik zu sehen, sondern deren Abschluss; so erfährt "der allgemeinste Begriff, der die Erkenntnis Gottes allererst ermöglicht, seine Bedeutungserfüllung". Auch wird deutlich, dass die Offenbarungstheologie der "Ersten Philosophie" bedarf - und zwar nicht nur zu ihrer "Vorhalle", sondern "zu ihrer Durchführung in wissenschaftlicher Gestalt". Im 13. Jh. beginnt man, die (Offenbarungs-)Theologie von der philosophischen Theologie, der Metaphysik, zu trennen. Dabei ist die Theologie "die höchste Wissenschaft sowohl in Bezug auf den Rang ihres Gegenstandes (subiecti honorabilitate) als auch auf die Gewissheit ihrer Beweise (certitudine demonstrationum)" (Honnefelder, XXII f.).

Es wird deutlich, dass A. in seinen Werken verschiedene Denktraditionen vermittelt, platonische, aristotelische und ps.-dionysische; zugleich rezipiert er als Erster im abendländischen Denken umfassend Moses Maimonides bzw. Avicenna. Wichtig ist im 13. Jh. die Transzendentalienlehre als Lehre vom Ersten und Grundlegenden. Für A. ist "ein Ding durch dieselbe Form oder Wesenheit seiend, eines, wahr und gut [...] Die Gegenposition, die behauptet, das Gute füge dem Seienden eine neue Wirklichkeit hinzu", ist für ihn ungereimt (Aertsen, 103f.). Aber das "Gute" ist ein vor allem theologisch besetzter Begriff. "Das geschaffene Gute läßt sich [...] als solches nur in der Relation zu Gott als dem ungeschaffenen Guten begreifen". Der eigentliche Gegenstand der Theologie ist das Höchste Gute (= Gott), die gesamte Seinswirklichkeit als das geschöpfliche Gute, dazu alles, was im Licht biblischer Offenbarung für das menschliche Heil konstitutiv ist (Anzulewicz, 113.119.140). Hinsichtlich der Universalienlehre gilt, dass für A. "jedes Wesen die Konkretisierung einer göttlichen Idee und die Verkörperung einer universellen Natur" ist (Santos-Noya, 193). Zur Lehre von der Willensschwäche meint A., die Ungewissheit der moralischen Urteile ermögliche die Willensschwäche; diese Gedanken hatten bis zur Reformation und bis zum spanischen Probabilismus Einfluss (Saarinen, 242).

In seiner Ethik bleibt A. eng bei der Nikomachischen Ethik (Stammkötter, 310). Nach Pierpauli ist Gott für A. stets das A und O; die Erkenntnis der göttlichen Vollkommenheit drückt sich dann in der menschlichen Vollkommenheit aus (330). Emery sieht A.s Lehre von der Relation als Synthese der aristotelischen Lehre mit der Theologie des 12. Jh.s (455-465). Olszewski vergleicht die Hermeneutik A.s mit der des Thomas (467-478). Nach Hoenen ist bei A. der menschliche Geist Abdruck der göttlichen Weisheit und hat darum zu ihr eine natürliche Neigung. Insofern ist die Theologie eine Wissenschaft. Der Mensch kann aber die Weisheit selbst nicht erreichen, es muss ihm von Gott her geholfen werden; er ist - z. B. im Hinblick auf die Trinitätslehre - auf die Offenbarung angewiesen (480; 482). Hödl bringt das auf die Spitze: "Theologen müssen von etwas reden, was sie nicht verstehen können, was sie aber verständig aussagen müssen. Der Trinitätssatz ist nicht einsichtig, aber er muß verständig gemacht werden" (500). Zur Theologie der Zeit meint Blasberg, nach A. geht "die kontingente Zeit aus der Ewigkeit hervor" (535). Zur Prädestinationslehre führt Obenauer aus, A. habe entschieden am universalen Heilswillen Gottes festgehalten "samt einem Verständnis der Entscheidungssouveränität des freien Willens, welche allein das göttliche Vorherwissen als Angelpunkt der Prädestinationssicherheit zuläßt" (548). Horst betont, A. binde die Garantie, dass die Kirche bei der Wahrheit bleibe, nicht an Petrus bzw. seinen Nachfolgern fest, sondern an die Kirche als ganze (555). Nach Hoye ist für A. "die mystische Theologie [...] die auf der strengen Vernunft beruhende negative Theologie". Die Vereinigung geschehe weder durch die Liebe noch durch den Glauben, sondern durch den Intellekt - und zwar durch "systematische Verneinungen" (587.596). Nach Sicouly ist für A. das Gebet ein Instrument der Theologie ("in omni theologico negotio incipiendum est ab oratione", 625).

Der Band bietet einen guten Überblick über das weitgespannte Feld albertinischen Denkens. Zusammen bilden die Beiträge ein würdiges Gedenkbuch für den großen Meister des 13. Jh.s. Der Leser spürt, wie stark die gegenwärtige Forschung an seinem Denken interessiert ist und wie weit in den letzten zwanzig Jahren - im Vergleich zur Festschrift von 1981 - die Forschung vorangeschritten ist. Man kann heute nicht mehr nur seinen großen Schüler Thomas als den typischen Vertreter mittelalterlichen Denkens hervorheben; dieses ist viel facettenreicher. Das erweisen die im vorliegenden Band abgedruckten Aufsätze ganz deutlich.

Fussnoten:

1) H.-G. Senger: Überlegungen zur "via Alberti" im 15. Jahrhundert, in: Albert der Große. Seine Zeit, sein Werk, seine Wirkung. Hrsg. von A. Zimmermann, Berlin/New York 1981, 217-236.