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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

176–179

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Malherbe, Abraham J.

Titel/Untertitel:

The Letters to the Thessalonians. A New Translation with Introduction and Commentary.

Verlag:

New York-London-Toronto-Sydney-Auckland: Doubleday 2000. XX, 508 S. gr.8 = The Anchor Bible, 32B. Lw. US$ 50,00. ISBN 0-385-18460-3.

Rezensent:

Traugott Holtz

Ein großer Kommentar des US-amerikanischen Gelehrten Abraham Malherbe zu den beiden Thessalonicherbriefen erweckt hohe Erwartungen; eine lange Reihe bedeutender Beiträge zur Erschließung der frühchristlichen Literatur in ihrem Bezug insbesondere zur hellenistisch geprägten (Popular-)Kultur begründet sie.

In der Anlage folgt der Kommentar im Wesentlichen dem Prinzip, das für die Reihe gilt. Gerade in diesem Band mit seiner besonders wichtigen Heranziehung der pagan-hellenistischen Literatur (aber auch der griechischen Kirchenväter!) bedauert man, dass griechischer Text nur in Umschrift geboten wird; auch würden m. E. Fußnoten die Lektüre eher ent- als belasten, dankenswerterweise belegt M. die herangezogenen Vergleichstexte genau. Etwas ungewöhnlich ist, dass M. allen Ausführungen zu den Briefen voran eine vollständige Übersetzung von ihnen stellt, die dann bei der Kommentierung abschnittweise wiederholt wird; dadurch wird dem Leser sogleich die Möglichkeit angeboten, sich einen elementaren Eindruck von dem Verhältnis beider Briefe zueinander zu verschaffen. Freilich werden dadurch auch einige erst hernach begründete exegetische Entscheidungen zu umstrittenen Textstellen präformiert.

Nach einer sehr kurzen allgemeinen Einleitung zur Situation des Paulus und der Stadt Thessalonich z. Z. der Gründung der christlichen Gemeinde (und jedenfalls des 1Thess) sowie einem ausführlichen, bemerkenswert ausgewogenen Literaturverzeichnis1, behandelt M. zunächst allein und ohne Hinsicht auf 2Thess den ersten Brief. Insgesamt geht er davon aus, dass Paulus in den Thessalonicherbriefen uns entgegentritt als ausgereifter Theologe und erfahrener Seelsorger, nicht eine noch rudimentäre Theologie, die sich erst in der Begegnung mit den Problemen entfaltet, die in 1.2Kor; Gal; Röm sich reflektieren. Und auch vor dem Hintergrund einer vorgegebenen Antiochenischen Theologie, durch die Paulus sich bestimmen ließ, sind die Thessalonicherbriefe nicht zu verstehen. 1Thess ist zu erschließen von der Situation einer sich formierenden christlichen Gemeinde und deren Problemen in einer griechischen Metropole in der Mitte des 1. nachchristlichen Jahrhunderts aus.

In einer ausführlichen Einleitung zu 1Thess erörtert M. sodann die allgemeinen Fragen, die sich hinsichtlich der Gründung der Gemeinde, ihres Charakters und ihrer Entwicklung sowie der Veranlassung und des Zweckes des Briefes, seiner Form und Art, seines Stils und seiner Sprache stellen. Das alles geschieht in einer gründlichen, eng am Text (sowohl des Briefes als auch einschlägiger paganer Quellen) orientierten, ausgewogenen und übersichtlichen Weise. Die daraus erwachsene Bestimmung des Briefes ist die als eines "pastoral letter"(z. B. 78); diesem Charakter sind alle brieflichen Formen zu- und untergeordnet. Vermutlich setzt das Schreiben nicht nur den mündlichen Bericht des gerade aus Thessalonich zu Paulus nach Korinth zurückgekehrten Timotheus voraus, sondern auch einen durch diesen übermittelten Brief der Gemeinde an ihren Gründer (76); indes legt Paulus auf das Letzte keinen besonderen Ton. Bedeutsam ist, dass sich keine wesentlichen Spannungen in der Gemeinde und zu ihrem Apostel zeigen.

Nicht ganz ohne Fragen ist mit Blick auf diese insgesamt überzeugende Analyse m. E. freilich die Bestimmung des Charakters der religiösen Herkunft der Gemeindeglieder durch M. Ihre soziale Verortung - entgegen eines Eindrucks, den 2Kor 8,2 erwecken könnte - in einem bescheidenen, aber nicht bettelarmen Handwerkermilieu ohne spürbaren besonderen sozialen Schutz dürfte freilich zutreffend sein; auch die zurückhaltende Beurteilung der pagan-religiösen Situation Thessalonichs und ihres Einflusses auf die junge christliche Gemeinde ist gewiss sachgemäß. Dem Judentum aber dürfte eine größere Bedeutung für die geistig-religiöse Welt der Thessalonicher Gemeinde und ihrer Glieder zukommen als M. voraussetzt. Zweifellos ist er freilich im Recht, wenn er 1Thess entnimmt, dass Paulus an zum Evangelium bekehrte Heiden als (primäre) Empfänger des Briefes denkt; und auch der literarische Charakter des Briefes als zugehörig zur Gattung hellenistischer ethisch-paränetischer Literatur ist durch M. überzeugend aufgewiesen worden. Aber das rechtfertigt noch nicht, den Hintergrund der Leser alternativ als griechisch, nicht jüdisch zu bestimmen, dem Brief eine pagane eher als eine jüdische Art zuzusprechen (56: "the Hellenistic hortatory character of the letter confirms their [sc. his readers] Greek, and not Jewish background"; "the letter has a Gentile rather than a Jewish cast"). Es ist mit einer vielgestaltigen und - vor allem - stark gestuften Vermischung beider Elemente zu rechnen, so wie es denn ja der jüdische Verfasser (und die Mitabsender) des so deutlich hellenistisch geprägten Briefes selbst zeigen.

Die ganze sogenannte jüdisch-hellenistische Literatur ist nicht nur eine jüdische, sondern auch eine hellenistische; und sie setzt Leser voraus, die dem entsprachen. Die Briefempfänger von 1Thess können sehr wohl bereits vor ihrer Hinwendung zum von Paulus verkündigten Evangelium mit dem Judentum in mehr oder weniger intensiver Berührung gestanden haben, vermittelt durch die Synagoge. Schon 1Thess lässt vermuten, dass das nicht nur eine Möglichkeit ist, sondern dass das tatsächlich der Fall war; sonst wäre vor allem seine Sprache für die Empfänger in wesentlichen Elementen, vor allem hinsichtlich der Bedeutung tragender Begriffe, schwerlich verständlich. Ist aber 2Thess, wie M. überzeugend begründen wird, ein nur wenig späterer Brief von demselben Absender an dieselbe Gemeinde, dann offenbart sich ein durchaus tiefer gegründeter Einfluss des Judentums auf Vorstellungen und Erwartungen in der Thessalonischen Gemeinde, der kaum erst in der knappen Zeitspanne zwischen 1Thess und 2Thess (375: "a very few month") wirksam geworden sein kann. Jedenfalls sieht auch M., dass die Situation, mit der sich 2Thess konfrontiert weiß, ohne Blick auf das Judentum nicht zu verstehen ist. Allerdings wird die Bedeutung der hier anstehenden Fragen für 1Thess durch die Beobachtung etwas relativiert, dass Paulus in dem Brief nicht so sehr eigentlich theologische Fragen traktiert als vielmehr solche der Lebensgestaltung. Gleichwohl wirkt sich die Bestimmung des geistigen Horizonts der Briefempfänger durchaus gelegentlich bei der Interpretation des Brieftextes aus, je nachdem, welcher Hintergrund für ihn vorausgesetzt wird.

So verstehe ich an einer Reihe von Stellen die Aussagen des Textes stärker als M. von jüdisch-hellenistischen Voraussetzungen her. Doch ist darüber hier nicht im Einzelnen zu rechten, zumal M. durchgehend seine Leser über die einschlägige Literatur in inzwischen leider ungewohntem Umfang einbeziehenderweise informiert. Und seine Interpretation bereichert in jedem Fall in hohem Maße die Möglichkeiten, nicht nur die Thessalonicherbriefe, sondern die frühchristliche Verkündigung und Literatur überhaupt besser zu verstehen.

Eine besondere Bedeutung erhält der Kommentar durch seine eindeutige, sorgfältig begründete Entscheidung für die "Echtheit" von 2Thess, d. h. die Annahme, er sei wenige Monate nach 1Thess in Korinth von Paulus geschrieben worden, nachdem ihn neue Nachrichten darüber erreichten, dass sich die Lage der Gemeinde verschlechtert hätte, nämlich fortgesetzte Nachstellung der Gemeindeglieder, das Hervortreten irriger eschatologischer Lehren, Verweigerung des Eigenerwerbs des Lebensunterhalts (375). M. nimmt die Argumente gegen die "Echtheit" von 2Thess durchaus ernst. Gleichwohl geht er in der der Kommentierung vorgeordneten Einführung so vor, dass er zunächst die offensichtlichen Probleme des Briefes von der Voraussetzung der paulinischen Verfasserschaft her diskutiert und zu lösen versucht. Erst in einem zweiten Durchgang folgt dem die Diskussion der Gründe, die für pseudepigraphische Verfasserschaft geltend gemacht werden (können). Methodisch ist ein solches Vorgehen nicht zu beanstanden; denn zuvörderst ist nicht die "Echtheit" eines Textes zu beweisen, sie ist gleichsam "nur" kritisch zu sichern; sein behaupteter pseudepigrapher Charakter hingegen ist zu beweisen. Gelingt es, einen Text in Übereinstimmung mit seinem eigenen Anspruch verständlich zu machen, dann muss die Bestreitung dieses Anspruchs wirklich überzeugende Gründe dafür und - vor allem - für ein besseres Verstehen unter anderen Voraussetzungen als der der "Echtheit" geltend machen, wozu freilich dann auch die Erklärung seines pseudepigraphischen Anspruchs gehört. Kritisch gesichert werden müssen beide Positionen allerdings in gleicher Weise!

M. gelingt es nun, 2Thess überzeugend als Paulus-Brief verständlich zu machen, der kurze Zeit nach 1Thess an dieselbe Gemeinde wie dieser geschrieben ist, freilich in eine veränderte, aber aus der vorangehenden verständlich erwachsene Situation und an andere Personen. Der letzte Punkt ist besonders interessant, auch in seiner Begründung. Schon bei der Erörterung von 1Thess 5,27 hatte M. darauf reflektiert, auf welche Weise die Rezeption eines Apostelbriefes an seine Gemeinde vermittelt worden sein kann. Er hatte bei der Kommentierung 1Thess 1,7f. u. ö. die (freilich doch wohl sehr unsichere) Vermutung geäußert, dass die Gemeinde in der Zeit seit der erzwungenen Trennung von Paulus eine erfolgreiche Mission entfaltet habe. Es sei daher möglich, dass sich eine Anzahl von Hausgemeinden mit jeweils nicht mehr als einigen Dutzend von Mitgliedern (345) in und um Thessalonich gebildet habe, die den Brief gleichfalls, gegebenenfalls mittels einer Kopie, zur Kenntnis nehmen sollte. In einen solchen weiterwirkenden Prozess spricht nun 2Thess hinein, an dieselbe Gemeinde gerichtet wie 1Thess, aber doch nicht ausnahmslos an dieselben Gemeindeglieder. Es ist in der Tat gut denkbar, dass sich im Blick des Apostels die Gewichte in der einen, durch Hausgemeinden gegliederten Gemeinde verlagert haben. Von daher lässt sich 2Thess gut in der Weise verstehen, dass allein 1Thess im Hintergrund seiner eschatologischen Irrtümer steht, Paulus aber differierende Weisen der Rezeption dieses Briefes in der Gemeinde für möglich hält. Da dazu auch die Kenntnisnahme durch eventuelle glossierte, jedenfalls bei der Übermittlung mündlich interpretierte Kopien gehören kann, bekommt 2Thess 3,17 einen besonderen Sinn.

Die faire Diskussion der Argumente für die Pseudonymität von 2Thess, die sich anschließt, zeigt, dass die Hypothese der "Unechtheit" keineswegs die überzeugenderen Argumente dafür präsentieren kann, den vorliegenden Text in seiner Besonderheit zu verstehen. Mit Recht betont M. das spezielle Problem, dass 2Thess im Unterschied zu den (übrigen) Deuteropaulinen ein Brief ist, der gleichsam einen Vorläufer hat, von dem er in seinem Verständnis nicht ablösbar ist.

In einem Punkt freilich scheint mir die Antwort von M. auf die Frage nach der "Echtheit" nicht befriedigend zu sein. Es geht dabei um den nicht zu übersehenden stilistischen Unterschied zwische n1 und 2Thess. Zwar wehrt sich M. zu Recht gegen eine Überinterpretation der Differenzen im Wortbestand und auch in der Tonlage der Briefe und weist darauf hin, dass alle Paulusbriefe ihre stilistischen Besonderheiten haben (367). Es bleibt aber doch ein auffälliger Unterschied beider Briefe in der Syntax, den insbesondere der von M. merkwürdigerweise nicht beachtete D. D. Schmidt2 herausgestellt hat. Von ihm her stellt sich nach meinem Urteil die Frage, ob man die Nennung der Mitabsender (1,1) nicht hinsichtlich der Einzelformulierung des Brieftextes doch stärker zu gewichten hat, als es üblicherweise geschieht.3

Auf die Einzelinterpretation der Aussagen in 2Thess gehe ich auch hier nicht weiter ein. M. macht die Entwicklung in Thessalonich sowohl hinsichtlich der eschatologischen Erwartungen als auch der Einstellung zum Erwerb des Lebensunterhalts überzeugend verständlich. Natürlich kann man zu manchen Ausführungen, ebenso wie bei der Kommentierung von 1Thess, durchaus Fragen stellen, muss zugleich aber - und vor allem - dankbar bekennen, reiche Belehrung und zahlreiche Anstöße zum vertieften Verständnis des Textes zu empfangen. Das gilt in hohem Maße auch für die Einsicht in das Gesamtgefüge und die innere Kohärenz des Brieftextes, selbst wenn der Abschnitt 2Thess 2,13-3,5 von M. zu stark zerstückelt erscheint.4

Insgesamt ist die Konfrontation mit einer Interpretation der frühesten uns bekannten Paulusbriefe an eine erst kurz davor im pagan-hellenistischen Milieu gegründete Gemeinde von der geistigen und literarischen Welt dieses Milieus her überaus bereichernd; denn sie geschieht aus intimer Kenntnis dieser Welt und doch in sachgemäßer Offenheit gegenüber dem andersgearteten Wurzelboden, aus dem die Evangeliums-Verkündigung des Apostels der Völker und seiner Mitarbeiter hervorgegangen ist. Besonders dies Letzte ist in der gegenwärtigen nordamerikanischen Diskussion nicht immer der Fall. Im deutschsprachigen Bereich aber dürfte nach diesem Kommentar ein Eintreten für die "Echtheit" von 2Thess hoffentlich nicht nur mehr Verwunderung auslösen.

Fussnoten:

1) Der Kommentar von G. Haufe zu 1Thess, ThHK 12/I, 1999, wird M. bedauerlicherweise noch nicht vorgelegen haben.

2) Daryl D. Schmidt, The Syntactical Style of 2 Thessalonians: How Pauline is it?, in: R. F. Collins [Ed.], The Thessalonian Correspondence, BETL 87, 1990, 383-393; der Sammelband ist sonst - natürlich - von M. gebührend berücksichtigt.

3) Vgl. zum Komplex neuerlich S. Byrskog, Co-Senders, Co-Authors and Paul's Use of the First Plural, ZNW 87, 1996, 230-250, sowie M. Müller, Der sogenannte ,schriftstellerische Plural' - neu betrachtet. Zur Frage der Mitarbeiter als Mitverfasser der Paulusbriefe, BZ NF 42, 1998, 181-201; aber auch schon W.-H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter, WMANT 50, 1979, 183-189.

4) Vgl. auch O. Merk, Überlegungen zu 2Thess 2,13-17, in: Ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese, BZNW 95, 1998, 422-431.