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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

357-358

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Fruzsina

Titel/Untertitel:

Das Leipziger Diakonissenhaus. Die Geschichte einer Schwesternschaft und ihres Krankenhauses.

Verlag:

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2023. 263 S. Geb. EUR 32,00. ISBN 9783960234814.

Rezensent:

Markus Schmidt

Die Autorin Fruzsina Müller hat eine bedeutende Studie zur Geschichte der Diakonie, zu diakonischen Gemeinschaften und zum konfessionellen Krankenhauswesen in der DDR vorgelegt. Indem sie kommunitäre, organisationale und medizinisch-politische Perspektiven kombiniert, wird diese Geschichte des Leipziger Diakonissenhauses vom ausgehenden 19. Jh. bis zum Ende der DDR zu mehr als zu einer Detailstudie unter vielen. Das 1891 gegründete Diakonissenhaus mit Krankenhaus spiegelt eine wechselvolle So-zialgeschichte, deren Ambivalenzen stets die Frage nach der diakonischen Identität angesichts politischer Realitäten, ideologischer Programme und wirtschaftlicher Zwänge aufwerfen.

Drei zentrale Kapitel des Buches beleuchten jeweils kommunitäre, organisationale und medizinisch-politische Aspekte des Systems »Diakonissenhaus«: »Die Schwesternschaft als Berufsgruppe und evangelische Lebensgemeinschaft« (Kap. 3), »Der Trägerverein als Arbeitgeber und Netzwerker« (Kap. 4) und »Die Ärzteschaft zwischen Heilen und politischem Handeln« (Kap. 5). Diese klare Gliederung ermöglicht es, in die mehrdimensionale Geschichte des Leipziger Diakonissenhauses einzutauchen. Jedes Kapitel ist chronologisch anhand dreier entscheidender Phasen strukturiert: Entstehungsgeschichte (1891–1933), Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) und des Sozialismus (1945–1989). Allem voran geht ein grundlegendes Kapitel zur Mutterhausdiakonie (Kap. 2), das die Intentionen, Motivationen und Ansprüche der Diakonissentradition zusammenfasst. Diakonissen werden als weibliche Akteurinnen in einer von geschlechtsspezifischen Normen geprägten Gesellschaft gezeigt. Der Vfn. ist dieser Zugang gelungen, indem sie Quellen aus Archiven und Aussagen aus Interviews kombiniert.

In Kapitel 3, das die Schwesternschaft als Berufsgruppe und als evangelische Lebensgemeinschaft behandelt, gewährt die Vfn. Einblick in die Herausforderungen und Erfahrungen der Leipziger Diakonissen. Insbesondere werden hier Lebenswelt, Lebensformen und Aufgabenbereiche geschildert, ein detaillierter Einblick in Bewerbung und Aufnahmekriterien gegeben sowie schon frühe Kritiken an der patriarchalen Leitung des Diakonissenhauses bzw. zur Frage der Mitbestimmungsrechte von Diakonissen dargestellt. Sensibel und aussagekräftig zugleich gelingt es der Vfn., anhand biographischer Portraits die ambivalente Phase während des Nationalsozialismus zu beschreiben. Es stehen einander konträre Schicksale Leipziger Diakonissen gegenüber: eine aufgrund der Diagnose Schizophrenie im Rahmen der »Euthanasie« (Aktion T4) ermordete Diakonisse, eine nicht-arische Diakonisse, eine Assistentin bei Zwangssterilisierungen sowie die leibliche Schwester des sächsischen NSDAP-Gauleiters. Die Diakonissengemeinschaft zur DDR-Zeit ist geprägt vom radikalen Einbruch der Neueintritte (letzte Einsegnung 1977), (sozial-)politischen Problemen und der Frage nach dem diakonischen Profil der Arbeitsfelder – d. h. nicht zuletzt der eigenen Identitätsbildung als Schwesternschaft – angesichts von zunehmend nichtkirchlichem und atheistischem Personal.

Im 4. Kapitel wird der Fokus auf den Trägerverein gerichtet, der nicht nur als Arbeitgeber, sondern auch als bedeutender Netzwerker fungierte. Die Organisationsstruktur und die Beziehungen des Trägervereins werden analysiert. Besonders interessant ist dabei der Einfluss des Trägervereins auf die diakonische Arbeit und deren Wechselwirkungen mit der Gesellschaft. Der Vorstand, der aus Vertretern der Leipziger Stadtpolitik, des Unternehmertums, der Ärzteschaft und der Kirche gebildet wurde, spiegelt die bereits benannten Ambivalenzen. Mit Beginn des »Dritten Reiches« wurde versucht, die Leitung des Vereins nach dem Führerprinzip umzugestalten. Ein Vorstandsmitglied als städtischer Vertreter war zugleich Leiter des Leipziger Gesundheitsamtes und förderte die Umsetzung der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik. Aufgaben der Erziehungsarbeit wurden dem Diakonissenhaus entzogen. Zugleich positionierte man sich gegen die Ideologie der Deutschen Christen. Die Vfn. zeigt plastisch, dass die überholte Schwarz-Weiß-Zeichnung des Kirchenkampf-Modells natürlich auch für das Leipziger Diakonissenhaus nicht gilt. Die Grenzen verlaufen nicht zwischen »bekennend-kirchlich« und nationalsozialistisch, sondern vielmehr innerhalb der Institutionen und Organisationen, ja auch innerhalb der Personen selbst. In der DDR-Zeit werden manche Abgrenzungen deutlicher: Das Diakonissenhaus löst sich von der Stadt, und es nehmen keine städtischen Vorstandsmitglieder an den Sitzungen mehr teil; umgekehrt trifft die sog. Verkirchlichung der Diakonie in der DDR auch auf das Leipziger Diakonissenhaus zu. Typisch für die Diakonie und dennoch bislang zu wenig erforscht ist die Rolle auch des Leipziger Diakonissenhauses, als Arbeitgeber für Dissidenten und Aussteiger aus der sozialistischen Gesellschaft zu fungieren.

Kapitel 5 widmet sich der Ärzteschaft und deren Dilemma zwischen dem Auftrag des Heilens und den jeweiligen politischen bzw. ideologischen Maßstäben. Die Vfn. beleuchtet, wie Ärzte mit den Herausforderungen der politischen Einflussnahme auf die medizinische Praxis umgingen, selber ihre medizinische Praxis nach ideologischen Kriterien führten oder aufgrund solcher Kriterien nicht mehr arbeiten konnten. Die Bildung des evangelischen Profils des Diakonissen(kranken)hauses ist mit der Nähe oder Distanz der Ärzte zur evangelischen Identität verbunden – allerdings auch im umgekehrten Sinne, wie im Falle eines Arztes jüdischer Abstammung, dem offenbar die Kündigung nahegelegt worden war, oder eines konfessionslosen Arztes, der möglicherweise in seiner Karriere behindert wurde.

Ein Fazit bündelt Schlussfolgerungen für die allgemeine Geschichte der Diakonie, diakonischer Gemeinschaften und sozialen Handelns. Sie werden konkretisiert hinsichtlich der Verhältnisbestimmungen von Diakonissenhaus und Stadtgeschichte, Schwes-ternschaft und Pflegegeschichte, Krankenpflegeschule und Berufs- geschichte sowie Ärzteschaft und Krankenhausgeschichte. Eine Chronik des Diakonissenhauses (1990–2022) schließt die Arbeit ab.

Die Vfn. arbeitet in der ostdeutschen kirchen- und sozialgeschichtlichen Forschung kaum beachtete Aspekte heraus. Ihrer Recherche und Analyse gelingt es, nicht nur die Diakoniegeschichte in den Fokus zu rücken, sondern Stadtgeschichte, Geschlechtergeschichte und die Geschichte des Krankenhaus- bzw. Pflegewesens einzubeziehen. Dieser mehrdimensionale Ansatz beleuchtet dabei nicht nur medizinische und pflegerische Entwicklungen, sondern auch soziale, ethische und politische Dimensionen, die die Arbeit der Diakonissen beeinflussten. Die Verknüpfung von Diakoniegeschichte und Stadtgeschichte eröffnet neue Perspektiven auf die Wechselwirkungen zwischen der diakonischen Institution und ihrer urbanen Umgebung. Gleichzeitig ermöglicht der geschlechtergeschichtliche Zugang einen Einblick in die Erfahrungen der Diakonissen, ihrer Position zwischen Rektorat und Ärzteschaft und ihrer sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s mehr und mehr marginaliserenden Rolle. – Insgesamt leistet die Vfn. einen wichtigen Beitrag zur historischen Erforschung der Diakonie in der DDR. Die klare Struktur und die tiefgreifenden Einblicke machen das Buch zu einer empfehlenswerten Lektüre für alle, die sich für die Schnittstelle von Kirche, Gesundheitswesen und Gesellschaft in politisch komplexen Zeiten interessieren.