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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

349-350

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lovin, Robin W.

Titel/Untertitel:

What Do We Do When Nobody is Listening? Leading the Church in a Polarized Society.

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans 2022. 162 S. Kart. Euro 15,44. ISBN 978-0-8028-8232-5.

Rezensent:

Marco Hofheinz

Robin W. Lovin (*1946) gilt als Nestor der US-amerikanischen Ethik in der Tradition der Niebuhr-Brüder. Zuletzt war er William H. Scheide Senior Fellow am Center of Theological Inquiry in Princeton und Cary Maguire University Professor of Ethics an der Southern Methodist University. In seiner jüngsten Publikation wendet er sich an christliche Führungskräfte, sowohl Pastorinnen und Pastoren als auch Laien in kirchenleitenden Positionen, und zwar mit der titelgebenden Frage seiner Untersuchung. L. stellt diese Frage vor auf dem Hintergrund einer politisch und kulturell tief gespaltenen US-amerikanischen Gesellschaft, deren Kulturkämpfe auch die Kirchen regelrecht zerreißen und das Überleben der Demokratie bisweilen fraglich erscheinen lassen. Es geht L. darum, in dieser Lage Orientierungswissen zu generieren, wie sich die Kirchen angesichts solch einer Polarisierung verhalten soll. In seinem Vorwort bemerkt Adam Hamilton, Senior Pastor der United Methodist Church, recht vollmundig: »The church may be the last, best hope for healing our divided society. Professor Lovin offers a roadmap for how we might do just that.« (xiii)

Das Buch ist in zwei große Teile untergliedert, die mit den Schlagwörtern »Divisions« (1–75) und »Listening« (77–144) überschrieben sind. Es mündet in eine »Conclusion« (145–154), die das Strategieplädoyer L.s auf den Punkt bringt: »Taking Up Space in a Divided Society« (145). Es geht L. dabei nicht um ein zivilreli- giöses Projekt, sondern um die Aufgabe der Kirche, in Zeiten immer stärker extremistisch auseinanderdriftender Pole auf den offenen Diskursraum der gesellschaftlichen Mitte hinzuweisen und diesen zu besetzen: »The church locates itself in the moral void that a divided society tries to create between the polar alternatives. The church announces to the world that that space is not empty. What the divided society will find there, taking up space, is not only the church, which was supposed to have relocated itself to one or the other of the poles, but the beginnings of that public moral discourse that seemed to have disappeared altogether.« (75) Im ersten Teil des Buches liefert L. dazu die gesellschaftliche Analyse, indem er beschreibt, wie sich die US-amerikanische Gesellschaft bereits im letzten Jahrhundert immer stärker auseinanderentwickelte und in eine Situation hineinmanövrierte, in der ein »vernünftiger Pluralismus« (John Rawls) politisch kaum mehr lebbar erscheint, der von Kompromissen zwischen Meinungsunterschieden lebt. Die Wahl (2016) und Abwahl (2020) Donald Trumps sind nur Symptome einer tiefer sitzenden Ursachenlage, deren Zuspitzung durch Corona forciert wurde.

Hinsichtlich der Rolle von Kirche in dieser polarisierten Gesellschaft rekurriert L. auf Dietrich Bonhoeffer und seine Strategie des »taking up space« (45), die etwa im Aufbau des Predigerseminars Finkenwalde mit seinem kommunitären Leben greifbar wurde. L. identifiziert zwei gegenwärtig verfolgte Strategien, wie das öffentliche Raum-Einnehmen der Kirche realisiert werde: zum einen die der christlich-religiösen bzw. evangelikalen Rechten, Räume kulturkontrollierend und kulturdominierend durch verschiedene politische Machtinstrumente der (antiwoken) Einflussnahme zu besetzen, zum anderen die Strategie des sich von der Welt abgrenzenden Zeugnisses einer als Kontrastgesellschaft verstandenen Kirche, die L. etwa Stanley Hauerwas zuschreibt. L. grenzt sich von beiden Positionen ab und beruft sich dabei auf Bonhoeffer, der sich mit seiner Unterscheidung von letzten und vorletzten Dingen genau dem verweigert habe, was den Erfolg der Polarisierung ausmache, nämlich der Stilisierung des Letzten zum Vorletzten. Demgegenüber votiert Lovin für eine Güterethik, die Gott als das Letzte, nämlich das höchste Gut, versteht und die vorletzten Dinge als jene konkreten, nächstliegenden Güter, um die es auch auf der Ebene politischer Aushandlungsprozesse gehe (vgl. 65–68). Auf diese in der theologisch-ethischen Reflexion zu identifizierenden und damit gleichsam zu depotenzierenden Gütern, die eben nicht von letzter Bedeutung seien, müsse man sich diskursiv ausrichten und sie erstreben. Durch diese konkrete Bezugnahme könne Gemeinsamkeit und Gemeinwohlorientierung entstehen.

Dazu ist zugleich – wie L. im zweiten Teil hervorhebt – ein dreifaches Hören erforderlich: das Hören auf das Wort (81–101), auf die Welt (102–125) und auf die, die nicht gehört und von der Gesellschaft vergessen werden, obwohl sie am dringendsten gehört werden müssten (126–144). Gerade in der mangelnden Bereitschaft, sich gegenseitig zuzuhören, für Argumente offen und um Verstehen bemüht zu sein, liege in Zeiten des Internets und der Sozialen Medien eine Ursache der Polarisierung. Eine sloganistische Verkürzung politischer Botschaften und Optionen repräsentiere exakt das Gegenteil. Eine Kirche indes, in der alle willkommen seien (»inclusivenss«), die nicht einfach dem roten oder blauen parteipolitischen Lager zugeordnet werden könne (»elusiveness«), die effektiv im Streben nach konkreten Gütern und nicht einfach auf Signalisierung eigener Tugendhaftigkeit bedacht sei (»effectiveness«), könne eine wirkliche Alternative bilden und einen unverzichtbaren Beitrag zum Gemeinwohl liefern. Ein Bündel an Leitfragen zur Reflexion und Diskussion (155–158), die gut als Studienleitfaden und Gesprächsgrundlage in Gemeinden dienen können, schließt den Band ab, gefolgt von einem Sach- und Namensregister (159–162).

L.s Untersuchung bildet nicht zuletzt aufgrund ihrer breiten Zielgruppenorientierung eine höchst spannende und anregende Studie. Gewiss ist manches noch stärker reflexions- und erläuterungsbedürftig, so z. B. die hermeneutische Frage, wie das Hören von Wort und Welt vermittelt ist. Nicht zuletzt wäre m. E. der intratextuellen Frage nachzugehen, was sich in der vorgängig als polarisiert wahrgenommenen Gegenwart zeigt, wenn sie mit Hilfe der biblischen Texte betrachtet wird. Gewiss sind manche Auslassungen der praktischen Abzweckung des Buches geschuldet. Besonders interessant scheint mir indes die Bonhoeffer-Lesart zu sein, die L. präsentiert. Bonhoeffer gleichsam in der Mitte der Gesellschaft zwischen den Extremen zu platzieren, provoziert natürlich zu der kritischen Rückfrage: Ist seine Theologie nicht gerade als Widerstandstheologie viel parteiischer und vielleicht sogar parteilicher als L. suggeriert? »Darf nicht«, um es auf Bonhoeffers bekanntes Diktum zuzuspitzen, »nur der gregorianisch singen, der auch für Juden schreit«?

Gewiss! Und doch weist L. zugleich auf die Differenz zwischen den Kontexten des sog. »Dritten Reiches« und der US-amerikanischen Gesellschaft hin. Er macht, anders gesagt, darauf aufmerksam, dass der Widerstand gegen den autoritären und verbrecherischen NS-Staat nicht einfach auf den Widerstand gegen die Polarisierung US-Amerikas übertragen werden darf, da gerade dies (qua Identifizierung des eigenen Gegners mit Hitler) die Polarisierung forcieren würde: »If the only way we know to be the church is an idealized version of the Confessing Church in the 1930s in Germany, we will need to find ourselves a Hitler to resist, and by identifying someone as the Hitler we need, we will end up contributing to the culture of polarization that we intended to resist.« (60) Diese Aporie verfängt natürlich nur so lange, so lange niemand tatsächlich Hitler ist. Dann wäre der »Bonhoeffer-Moment« der konkreten Identifizierung, mithin der status confessionis, schlicht alternativlos.