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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

345-347

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Barth, Roderich, Eisen, Ute E., u. Martin Fritz [Hgg.], zus. m. Th. Neumann

Titel/Untertitel:

Barmherzigkeit. Das Mitgefühl im Brennpunkt zwischen Religion und Ethik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. IX, 509 S. = Religiöse Dynamiken in Geschichte und Gegenwart, 1. Kart. EUR 99,00. ISBN 9783161600869.

Rezensent:

Thorsten Moos

Auch liberal verfasste Gesellschaften bedürfen der emotionalen Unterfütterung ihrer Prozesse und ihrer Leitprinzipien: Im Gefolge von Martha Nussbaums Werk »Politische Emotionen« ist die Bedeutung von Gefühlen für Ethik und Politik in den vergangenen Jahren wieder verstärkt zum Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit geworden. Die Frage nach der Kultivierung prosozialer Emotionen führte bei Nussbaum zu einer Relecture des Projekts »Zivilreligion«; im vorliegenden Band kommen hier insbesondere die positiven Religionen in den Blick. Der im Kontext des Forschungsprojektes »Religiöse Positionierung« an den Universitäten Gießen und Frankfurt am Main entstandene Band stellt Barmherzigkeit (einschließlich verwandten Emotionen wie Mitleid, Mitgefühl, Empathie etc.) als in verschiedenen Religionen verankertes prosoziales Gefühl in den Mittelpunkt. Er ruht auf jüngeren Vorarbeiten zum Zusammenhang von Religion und Gefühl. Dabei werden neben theoretischen Zugängen »phänomenologische Konkretion und historische Dynamisierung« (3) versprochen. Die Beiträge, teils auf Vorträge einer Tagung im Jahr 2018 zurückgehend, teils später hinzugekommen, entstammen verschiedenen disziplinären wie religiösen Perspektiven, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf der christlichen Theologie liegt. Die dreiteilige Gliederung des Bandes verdankt sich im Wesentlichen einer historischen Verlaufslogik von Antike und Spätantike (»Wurzeln«), Mittelalter und Neuzeit (»Transformationen«) sowie Gegenwart (»Normative Perspektiven«).

Das erste Kapitel bietet differenzierte hermeneutische Studien zu verschiedenen Termini der Barmherzigkeit bei Homer und Aristoteles (Douglas Cairns), in der Hebräischen Bibel und der rabbinischen Auslegung (Shimon Gesundheit), im Buch Exodus (Melanie Peetz), in den synoptischen Evangelien (Ute E. Eisen), im feministisch gelesenen Koran (Dina El Omari) und in buddhistischen Schriften (Carola Roloff). Prägnanz gewinnen die Analysen jeweils durch kontextuelle Einbettung sowie durch Klärung des exegetischen Zugangs: So arbeitet sich der Beitrag von Shimon Gesundheit an der Frage ab, inwieweit die in israelitischen Gesetzestexten geforderte Barmherzigkeit im Kontext des Alten Orient einzigartig ist (und kommt zu einem differenziert positiven Ergebnis). Ute Eisen findet die Pointe des Mitleidskonzepts der synoptischen Evangelien gerade nicht in einer vorwiegend kognitiven Substruktur des Mitleids, sondern in der Verbindung von Emotion und Handlung, weswegen sie konsequent von »Mitleid(shalndeln)« (81) spricht. Dina El Omari rekonstruiert im koranischen Motiv der göttlichen Barmherzigkeit eine graduelle Entwicklung von einer patriarchalen hin zu einer geschlechtergerechten eschatologischen Heilsvorstellung.

Im zweiten und längsten Kapitel des Bandes werden klassische westliche Positionen Thomas von Aquins (Diana Fritz Cates), Baruch de Spinozas (Felix Krämer), der britischen Moral-Sense-Philosophie (Gregor Bloch), der Hallischen Aufklärung (Martin Fritz), Immanuel Kants (Roderich Barth) und Friedrich Schleiermachers (Matthias Hoffmann) entfaltet, ergänzt um einen Beitrag zu Victor Hugo (Iris Roebling-Grau). Hier, auf dem Höhenkamm der westlichen Philosophie und Theologie, scheint der Band ganz bei sich selbst. Die Analysen sind durchweg subtil, pointiert und hochgradig lesenswert. Das gilt insbesondere für Studien zu Spinoza, Kant und Schleiermacher, die Mitleid bzw. Barmherzigkeit aus ethischen bzw. dogmatischen Gründen ablehnen, dann aber unter anderen Termini – scientia intuitiva bei Spinoza, Mitgefühl bei Kant – geeignete Substitute anbieten und damit zugleich der kate- gorialen wie der phänomenalen Präzision dienen. Das gilt noch einmal mehr für den Beitrag zu Victor Hugos Differenzierung von miséricorde, charité, pitié und profonde pitié als verschiedenen Weisen des Umgangs mit dem Leid anderer, verhandelt im Horizont der Frage nach der pädagogischen Wirkung von Literatur.

Das dritte und kürzeste Kapitel versammelt philosophische (Christoph Demmerling; Matthias Schlossberger), politikwissenschaftliche (Felix Heidenreich) und juristische (Thorsten Keiser) und religionswissenschaftliche bzw. theologische Beiträge (Micha Brumlick; Mouhanad Khorchide), die sich im weitesten Sinne mit der ethischen Relevanz von Barmherzigkeit, Mitgefühl und vergleichbaren Emotionen befassen. Demmerling verortet die ethische Relevanz des Mitgefühls in der moralischen Motivation und Sensibilisierung, nicht aber in der Rechtfertigung und Begründung moralischer Orientierungen. Schlossberger differenziert im Anschluss an Scheler das Mitgefühl vom Miteinanderfühlen und relativiert von hier aus Nietzsches pauschale Kritik an einer Ethik des Mitleidens. Heidenreich gibt einen luziden Überblick über die Theoriegeschichte politischer Emotionen und plädiert abschließend für die Kultivierung eines nicht-befeindenden Mitgefühls. Für das Recht weist Keiser aus einer liberalen rechtstheoretischen Perspektive hingegen eine emotionale Aufladung ebenso zurück wie das anachronistische Gnadenrecht. Brumlik plädiert in einem kurzen, eher skizzenhaften Beitrag für eine Ergänzung der Barmherzigkeit durch Würde, Khorchide für eine Korrelation zwischen der Barmherzigkeit Gottes und der menschlichen Freiheit.

Insgesamt versammelt der gut redigierte Sammelband eine Fülle von lesenswerten Beiträgen, die oft einen weiten Horizont aufspannen und dennoch in der Regel um eine These nicht verlegen sind.

Leider nehmen die Beiträge kaum je aufeinander Bezug; insbesondere die normativen Perspektiven des dritten Kapitels hätten hiervon profitieren können. Auch die kurze Einleitung der Herausgebenden liefert keine Synthesen; insbesondere das rahmende Konzept der religiösen Positionierung bleibt opak. Dabei bleibt der einleitend versprochene phänomenologische Zugang ein philologisch-hermeneutischer: Phänomene werden Texten abgelauscht. Hier entwickelt der Band seine große Stärke. Empirische Zugänge fehlen demgegenüber ganz; auch sozialwissenschaftliche und sozial- bzw. kulturanthropologische Perspektiven sind – mit Ausnahme der Politikwissenschaft – nicht vertreten. Angesichts der christlich-theologischen Dominanz in der Auswahl der Beiträge verwundert es zudem, dass Fragen der Institutionalisierung von Barmherzigkeit unterhalb des Staates, wie sie in der Christentumsgeschichte insbesondere in Caritas und Diakonie eine fundamentale Rolle gespielt haben, keine Berücksichtigung finden. Insbesondere in den gegenwartsbezogenen Beiträgen bleiben damit wesentliche soziale und kulturelle Formen der Barmherzigkeit unberücksichtigt, weswegen das eingangs betonte Moment der »Kultivierung« von Emotionen eigentümlich ortlos bleibt. Das schmälert jedoch nicht den Wert der hervorragenden Beiträge in diesem empfehlenswerten Buch.