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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

341-343

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schroth, Jörg

Titel/Untertitel:

Konsequentialismus. Einführung.

Verlag:

Baden-Baden: Verlag Karl Alber 2022. 178 S. = intro: Philosophie, 1. Kart. EUR 24,00. ISBN 9783495485255.

Rezensent:

Dieter Birnbacher

»Der Tag kann nicht mehr allzu weit entfernt sein an dem wir nichts mehr von ihm hören«, meinte Bernard Williams vor 50 Jahren über den Konsequentialismus. Ein großer Irrtum. Jörg Schroths Buch zeigt, wie intensiv die Debatte um die folgenorientierte Ethik weitergegangen ist und wie weitreichend die Einsichten sind, zu der sie geführt hat. Eine davon ist, dass das Modell des Konsequentialismus (mit seiner historisch wichtigsten Ausformung, dem Utilitarismus), das in Einführungskursen in die Ethik in der Regel dem Modell der Deontologie gegenübergestellt wird, sehr viel mehr mit diesem gemeinsam hat als häufig behauptet. Dazu gehört u. a. die Anerkennung von Pflichten und Rechten, die Auffassung von Handlungsnormen als kategorische Imperative, die Anerkennung der grundsätzlichen Relevanz des Werts der Handlungsfolgen für die moralische Richtigkeit von Handlungen und nicht zuletzt auch die Neigung zum Moralismus und zur Überforderung des Norm-unterworfenen. Ein sehr viel schärferer Gegensatz besteht zwischen beiden Ethikmodellen und dem insbesondere aus der Antike bekannten und heute erneut zu Ehren gekommenen Modell der Tugendethik. Eine andere Einsicht ist, dass sich hinter der anscheinenden Einheitlichkeit des Konsequentialismus eine Vielzahl von miteinander um Plausibilität konkurrierenden Theorien verbirgt, viele davon erst in den letzten Jahren entwickelt. Die meisten davon sind von dem Wunsch beseelt, die dem Konsequentialismus in seinen lupenreinen Formen zu Recht oder Unrecht zugeschriebene Unvereinbarkeit mit grundlegenden Normen der Alltagsmoral in der einen anderen Weise aufzulösen oder zumindest abzumildern.

S. zufolge ist dieses Unterfangen allerdings zum Scheitern verurteilt. Einer der Gründe dafür ist die »Akteurs-Relativität« vieler grundlegender Normen der Alltagsmoral. Die »Akteurs-Relativität« dieser Normen besagt u. a., dass ein Unrechttun durch einen Akteur auch dann als moralisch unzulässig zu werten ist, wenn es mit Sicherheit verhindert, dass andere Akteure größeres Unrecht tun. Ob es sich hierbei um ein »Paradox« handelt, wie S. unterstellt, kann dahingestellt bleiben. Es ist jedenfalls ein Hinweis darauf, dass es bei der deontologischen Kritik am Konsequentialismus womöglich nicht so sehr um dessen vermeintliche These vom Vorrang des Guten vor dem Rechten geht als vielmehr um ein Unbehagen an der von diesem angenommenen grundsätzlichen Verrechenbarkeit von Recht und Unrecht.

Das Buch ist weitaus mehr als eine »Einführung«. Es ist eine umfassende und differenzierte Darstellung des Diskussionsstands um ein zentrales Thema der Ethik mit den Methoden der analytischen Philosophie. Sein hervorstechendes Merkmal ist Systematizität. So beginnt es mit einer systematischen Verortung der konsequentialistischen Ethikmodells innerhalb des Gesamtfelds der Ethik und der für alles Folgende grundlegenden kategorialen Unterscheidungen wie der zwischen einerseits moralisch richtigen und moralisch falschen, andererseits moralisch guten und moralisch schlechten Handlungen. Auch moralisch richtige Handlungen können moralisch schlecht sein, moralisch richtige moralisch falsch und umgekehrt. Die Bewertungsperspektiven sind jeweils verschieden und unabhängig voneinander.

Das Kennzeichen der konsequentialistischen Ethikmodells sieht S. in der »Maximierungserlaubnis«: Grundlegend für konsequentialistische Theorien ist, dass sie die Maximierung des (wie immer bemessenen) positiven Werts der Handlungsfolgen (des Guten, das durch die Handlung in die Welt kommt) immer zulassen, während deontologische Theorien dies nicht tun, bzw. nur so weit, als die Mittel dazu bestimmte definierte Einschränkungen respektieren. Ein »Maximierungsgebot«, wie es etwa für Benthams Form des klassischen Utilitarismus prägend war, hält er dagegen als Kennzeichen für konsequentialistische Theorien zu Recht für ungeeignet. Es würde jeden Akteur in kognitiver wie in motivationaler Hinsicht überfordern und muss insofern als praxisuntauglich gelten. Es kann allenfalls im Rahmen einer »idealen Theorie« einen Platz haben, der im Sinne eines »indirekten Konsequentialismus« eine »nicht-ideale Theorie« zur Seite gestellt wird, die die Maximierungsnorm auf einen Kodex praxistauglicher Normen herunterbricht. Der bekannteste einschlägige Versuch ist Richard Hares Zwei-Ebenen-Modell für den Utilitarismus. Umstritten ist dabei, wie weit von den Normen der aus der idealen Theorie abgeleiteten nicht-idealen Theorie für die gängigen konsequentialistischen Modelle zu erwarten ist, dass sie mit denen der weithin akzeptierten Alltagsmoral zusammenfallen. So ist das Gebot, seine Versprechen zu halten, einerseits ein zentrales Element der Alltagsmoral. Von Deontologen wird es gewöhnlich als nicht weiter begründbare, intuitiv plausible Prima-facie-Verpflichtung eingeführt. Zugleich ist seine Geltung und Befolgung aber auch Grundlage kollektiven sozialen Vertrauens und damit eine der wesentlichen Voraussetzungen des guten Lebens zahlloser Individuen.

Der Band macht in Stil und Schreibweise der analytischen Ethik alle Ehre und setzt Maßstäbe für die mit ihm beginnende Reihe »intro: Philosophie« des Alber-Verlags. Die Argumentation ist auf nahezu mathematische Weise luzide und folgerichtig und erinnert darin an den Denkstil des Göttinger Neukantianers Leonard Nelson, dem sich S. in zahlreichen anderen Arbeiten gewidmet hat. Bei aller Subtilität der Argumentation ist sie auch für nicht Eingeweihte verständlich. Ein Kabinettstück der in diesem Buch zu findenden analytischen Klärungen ist etwa die Unterscheidung von nicht weniger als sechs möglichen Interpretationen des als Kennzeichen des Konsequentialismus in der einschlägigen Literatur wiederholt angeführten »Vorrang des Guten vor dem Rechten« (76 ff.). Alle werden als ungenügend, unplausibel oder trivial verworfen. Die guten Handlungsfolgen, auf die die Moral nach konsequentialistischer Auffassung zielt oder zielen sollte, sind nicht zwangsläufig ausschließlich außermoralische Güter wie Freude und Bedürfnisbefriedigung, sondern auch ihrerseits moralische – und eher der Sphäre des Rechten als der des Guten angehören- de – Werte wie Würdewahrung oder Verteilungsgerechtigkeit.