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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

335-337

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Breidenbach, Carina, Ghalleb, Ines, Pensel, Dominik, Simon, Katharina, Telsnig, Florian, u. Martin Wittmann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Fakten und Verunsicherung. Ordnungen von Wahrheit, Fiktion und Wirklichkeit.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2022. 385 S. = Blaue Reihe. Kart. EUR 26,90. ISBN 9783787340545.

Rezensent:

Dirk Evers

Bei dem zu besprechenden Band handelt es sich um eine Sammlung von Essays, die sich aus philosophischer, literaturwissenschaftlicher und kulturtheoretischer Sicht einer aktuellen Herausforderung stellen wollen, dem öffentlichen Diskurs um Alternative Facts, Post-Truths, Fake News und damit dem Verhältnis von Fiktion und Anspruch auf Wahrheit. Angesichts neuer Krisen erscheinen diese Debatten schon wieder seltsam fern, und die Bezugnahmen auf die Amtszeit Donald Trumps als amerikanischen Präsidenten, die Renaissance des Begriffs der Lügenpresse und die Covid-19-Pandemie mit ihren Verschwörungstheorien wirken angesichts der fast vollständig neuformierten öffentlichen Diskurse fast schon anachronistisch. Doch bleibt die Fragestellung hochaktuell, auch wenn die damit verbundenen Schlagwörter verblasst erscheinen mögen. Im Band versammelt sind 16 Essays unterschiedlicher Länge und sehr heterogenen Zuschnitts. Den Auftakt macht eine Einführung durch die Herausgeberinnen und Herausgeber, die eine doppelte Verunsicherung gegenwärtiger Diskurse bezüglich des Faktischen identifizieren: zum einen eine geradezu als Paranoia sich äußernde affektive Stimmung von Kollektiven gegenüber behaupteter Faktizität, zum anderen die klare Einsicht in die Unsicherheit, die Fakten und Wahrheitsbehauptungen schon immer immanent ist. Nach ihrer Darstellung ist es Aufgabe des Bandes, in diesem Zusammenhang »zum Verständnis und zur Reflexion gegenwärtiger historischer Entwicklungen und gesellschaftlicher Debatten und ihrer Gegenstände […] beizutragen« (16). Die folgenden Beiträge lassen sich in vier Gruppen unterteilen. Die ersten Beiträge beziehen sich mehr als die späteren auf die aktuellen politischen und sozia-len Auseinandersetzungen um Lügendiskurse und Wahrheitsproduktion. Den Auftakt zu dieser Gruppe bildet ein kurzer Essay von Slavoj Žižek, der im Zusammenhang der Covid-19-Pandemie gegen eine Verführung zum Unwissen plädiert. Es schließen sich ein Essay des Amerikanisten Klaus Bennesch zur Kunst der Lüge in der Politik an sowie ein längerer literarischer Beitrag des Schriftstellers Oswald Egger über den Übergang vom Wahrnehmen zum Denken und zurück am Beispiel der Linie.

Den Übergang zur zweiten Gruppe von Beiträgen, die sich mit dem Verhältnis von Narration und Fiktion und ihrem Bezug zur Wahrheit auseinandersetzen, bildet eine medienwissenschaftliche Untersuchung der Anglistin Elisabeth Bronfen über die Darstellung einer ersten amerikanischen Präsidentin in zeitgenössischen TV-Serien und die damit verbundenen Inszenierungen von Macht. Auf sie folgt eine literaturwissenschaftliche Untersuchung zu Ilja Trojanows Roman Doppelte Spur, der mit Mitteln der Fiktion auf reale Sachverhalte rekurriert und gerade darin eine besondere Wahrheit der Fiktion behauptet. Die Autorinnen identifizieren hier ein Spiel mit hybriden Konstruktionen von Fakt und Fiktion, das offen und unabgeschlossen bleibt, um gerade dadurch utopisches Potential zu entfalten. Die folgenden Studien sind zwei kurze essayistische Beiträge. Der erste analysiert den Film La dernier des injustes des Regisseurs und Dokumentarfilmers Claude Lanzmann, in dem dieser ein Interview mit Benjamin Murmelstein, dem überlebenden »Judenältesten« des Konzentrationslagers Theresienstadt, verarbeitet hat. Weil diese filmische Bearbeitung des Interviews von 1976 viele Jahre später erfolgt und weil das Interview die rückblickenden Rechtfertigungsnarrative des Interviewten deutlich macht und dies mit dokumentarischen Bilder unterlegt wird, so dass verschiedene Perspektiven und Zeitebenen ins Spiel kommen, macht der Film auf verschiedene Codierung von Wirklichkeit aufmerksam. Der zweite ist ein literarischer Text, der sich mit dem Bauernkriegspanorama von Werner Tüpke auseinandersetzt.

Die dritte Gruppe mit vier Beiträgen nähert sich auf unterschiedlichen Wegen der Funktionsweise von Sprache und Rede sowie der damit verbundenen Verzerrungen in ihren öffentlichen wie privaten Formen. Die Beiträge der Schriftsteller Peter Waterhouse und Thomas Schestag sind dabei selbst Inszenierungen von Sprache und machen, so die Einleitung, »das Rauschen der Sprache selbst hörbar« (16). Allein der Beitrag von Schestag mit dem Titel »Geräuschkulissen« ist 50 Seiten lang und stellt eine Collage dar, unter anderem mit Bezügen auf die Platonischen Dialoge, auf die Informationstheorie von Shannon und Weaver und auf Werke Johann Peter Hebels und Karl Valentins.

Den Abschluss bilden dann historisch, philosophisch und so- zialwissenschaftlich reflektierende und argumentierende Texte, die sich mit der Konstruktion von Wirklichkeit in ontologischer und erkenntnistheoretischer Perspektive beschäftigen. Er beginnt mit einem historisch orientierten Text der Literaturwissenschaftlerin Jocelyn Holland, die die Konstruktion von Faktizität in Aufklärung und Frühromantik darstellt. Aufschlussreich sind ihre Analysen zur Entstehung des deutschen Begriffs der »Tatsache« in dieser Zeit als Übersetzung des englischen »matter of fact«. Sie macht deutlich, wie das frühromantische Verständnis von Fakten zwischen deren Rezeption und Produktion weder auf ein positivistisches Verständnis noch auf postmoderne Kontingenz zuläuft. Es folgen zwei weitere sehr lohnende Beiträge. Der Philosoph Marc Rölli führt eine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Tatsache und bezieht sich dabei zum einen auf Bruno Latour, zum anderen auf den Pragmatismus von John Dewey. Wissenschaftliche Tatsachen erscheinen nach dieser Analyse nicht als bloße Vorkommnisse, sondern als in einem Interpretationszusammenhang vorkommende Zeichen, die auch eine Sinn-Dimension haben. Eindrücklich und gut zu lesen ist auch der Beitrag des Soziologen Dirk Baecker, der aus einer Luhmannschen Perspektive gegen den sogenannten »Neuen Realismus« die Funktion einer gemeinsamen, »objektiv« zu beschreibenden Wirklichkeit herausarbeitet, die nur deshalb möglich erscheint, weil sie sich entzieht. Sympathisch ist seine Maxime, dass man eine Fiktion nur dann aufklären solle, »wenn das Problem, das sie löst, anders besser gelöst werden kann und wenn das nicht nur aus der Sicht dessen gilt, der die Fiktion aufklärt, sondern auch dessen, der sie hat« (324). Der Band schließt dann mit einem kurzen literarischen Essay zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, der sich unter anderem auf Walter Benjamin bezieht.

Insgesamt liegt ein doch sehr heterogener Band vor, der für die meisten Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift wohl von eher geringem Interesse sein dürfte. Einer größeren Zahl der Beiträge geht es um die Interpretation von Literatur, Fernsehserien und Filmen mit der ihnen eigentümlichen Ambivalenz von Wahrheit und Fiktion. Ein wirklicher Zugriff auf die aktuellen Debatten um Hate Speech und alternative Fakten gelingt allenfalls gelegentlich, und der Bezug auf soziopolitische Debatten und Konflikte zwischen Pandemie, Klimawandel und politischem Populismus dient ebenso gelegentlich eher als Aufhänger, als dass diese Debatten und ihre Dynamik einer gründlichen Analyse zugeführt würden. Wer sich aber für das Verhältnis von Fiktion und Wahrheit interessiert, dürfte diesem Band einige Anregungen entnehmen können.