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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

314-316

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Greiling, Werner, Schirmer, Uwe, u. Elke Werner [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Luther auf der Wartburg 1521/22. Bibelübersetzung – Bibeldruck – Wirkungsgeschichte.

Verlag:

Köln: Böhlau Verlag 2023. 378 S. m. 10 s/w u. 69 farb. Abb. Geb. EUR 60,00. ISBN 9783412520083.

Rezensent:

Markus Wriedt

Die 500. Wiederkehr der Bekanntmachung seiner 95 Thesen im Jahre 2017 machte Martin Luther und die mit ihm und seinem Leben verbundenen Daten zu einem unübersehbaren Gegenstand der Druckwerke. In der diesem Memorialdatum vorausliegenden Zeit wurde in der Reformationsdekade unter verschiedenen thematischen Gesichtspunkten das Ereignis der Reformation bereits intensiv dokumentiert. Dass nunmehr auch zahlreiche Ereignisse der eigentlichen Reformation seit 1518 ebenfalls in verschiedensten Publikationen erinnert und rekonstruiert werden, setzt diese größtenteils protestantische Erinnerungskultur bruchlos fort. So nimmt es denn auch nicht wunder, dass nach der berühmten Widerrufsweigerung Luthers auf dem Reichstag 1521 in Worms nunmehr auch die Fortschreibung dieser Geschichte mit Luthers Aufenthalt auf der Wartburg bis zum März 1522 historiographisch erneut bearbeitet wird.

Der vorliegende Sammelband dokumentiert eine Tagung vom 21.–23. Oktober 2021 in Eisenach, in der verschiedene Beiträger das Ereignis des knapp elfmonatigen Wartburgaufenthalts historisch rekonstruieren und vor allem die wirkmächtigen Folgen der von Luther dort erarbeiteten Übersetzung des Neuen Testaments beleuchten. Die 17 interdisziplinären Beiträge stammen von Allgemein-, Kirchen- und Kunsthistorikern, Theologen und Sprachwissenschaftlern, Archivaren und Museumswissenschaftlern. Die Ergebnisse des fachübergreifenden Gesprächs werden allerdings in den gedruckten Beiträgen kaum erwähnt, sieht man von einigen wenigen Verweisen im Anmerkungsapparat der Aufsätze ab.

In vier inhaltlich voneinander geschiedenen Abschnitten nähern sich die Autorinnen und Autoren dem reformationsgeschichtlich aktuellen Erinnerungsdatum der Jahre 1521/22. Zunächst referieren Stephan Flemmig zu Spanien und insbesondere zu Kardinal Cisneros, Jens Haustein in einem äußerst knappen, aber informativen Überblick zu (spät-)mittelalterlichen Bibelübersetzungen zwischen dem 9. Jh. und 1517 und Achim Hack zu einigen Bibelübersetzungen vor 1521. Der Ausdruck »vorreformarisch« ist dabei ausschließlich chronologisch zu verstehen und impliziert keine inhaltlichen Bezüge im Sinne einer Präfiguration der reformatorischen Leistung Martin Luthers. Sie steht, das machen die Beiträge sehr deutlich, in einem Traditionszusammenhang von volkssprachlichen Bibelübersetzungen.

Das Alleinstellungsmerkmal der Übersetzung Luthers wird erst einsichtig, wenn es im zweiten Abschnitt um die sprachlichen Besonderheiten von Luthers Übersetzungsleistung im europäischen Vergleich geht. Hans-Joachim Solms arbeitet die philologisch fundierte Übersetzungsmethode Luthers heraus und vergleicht die sprachliche Gestaltung der Vollbibel von 1534 mit den Vorläufern in den Katechismen von 1529. Dabei betont er die Kontinuität und innere Dynamik des Übersetzungsansatzes von Luther von den Anfängen bis zur Vollgestalt der deutschen Bibel. Hens Beelen befasst sich mit der niederländischen Statenvertaling von 1637. Von Werner Greiling stammt ein Beitrag zur spätaufgeklärten neunbändigen »Schullehrer-Bibel« von 1824–1828 des Theologen Gustav Friedrich Dinter. Beide Beiträge dokumentieren exemplarisch die nachhaltige Wirksamkeit von Luthers Bibelübersetzung in den folgenden Jahrhunderten. Etwas sperrig zu diesen weiten Rezeptionswahrnehmungen verhält sich demgegenüber der Beitrag von Bridget Heal, die die Bibelillustrationen der Luther-Bibel in Renaissance und Barock thematisiert. Einerseits dokumentiert sie sehr gut die weitere Wirkungsgeschichte der Bilder aus den Lutherbibeln des 16. Jh.s, andererseits verweist der Beitrag auf die noch folgenden Aufsätze zur Bedeutung Lukas Cranachs d. Ä. für die Wirkmächtigkeit der reformatorischen Bibelübersetzung.

Dieser Spur folgen vier kunstgeschichtliche Beiträge im dritten Hauptteil der Sammlung unter dem Titel »Der Weg zur Vollbibel (1522–1534)«. Anja Grebe stellt illuminierte Lutherbibeln in der Frühen Neuzeit dar und thematisiert den handwerklichen »Rückschritt« von der typographischen Technik hin zu wertsteigernden Ausgestaltungen der Illustrationen. Nadine Willing-Stritzke setzt diesen Ansatz fort und untersucht anhaltinische Prachtbibeln und ihre Ausgestaltung durch Lukas Cranach d. Ä. Sebastian Dohe nimmt dieses Thema erneut auf und fragt nach dem unmittelbaren Einfluss des illustrierenden Bildschaffens von Cranach d. Ä. in der ersten Vollbibel von 1534. Es wird deutlich, wie sehr in den Bildwerken die Werkstätten und Mitarbeiter der berühmten Künstler sichtbar werden. Die inhaltliche Einflussnahme oder Rezeption der reformatorischen Aussagen sind hingegen nur hypothetisch und rudimentär zu erkennen.

Die kunsthistorischen Beiträge werden in diesem dritten Abschnitt eingeleitet durch eine sorgfältige Rekonstruktion der lutherischen Übersetzungsarbeit auf der Wartburg durch Stefan Michel. Er analysiert dazu den hinlänglich bekannten, aber so spezifisch nicht ausgewerteten Briefwechsel des Reformators und die ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmittel. Sie erlauben einen Blick in die Arbeitsstube des Übersetzers und lassen den großen zeitlichen Rahmen erkennen, in dem die schlussendlich in elf Wochen fertiggestellte Übersetzung des Neuen Testaments zu sehen ist. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Bibelübersetzung auf den Buchhandel arbeitet Thomas Fuchs heraus. Er unterscheidet dabei sorgsam zwischen den für Bibliotheken speziell geschaffenen Vollbibeln und den für den alltäglichen Gebrauch gedruckten Teilbibeln, die aufgrund von Verlusten insgesamt sehr viel schwächer dokumentiert sind.

Das eigentliche Ereignis, den Wartburg-Aufenthalt Martin Luthers, dokumentiert – in den vierten Teil einleitend – Christopher Spehr in einer differenzierten Relektüre der bekannten Quellen, die er allerdings auf die Frage nach der Geheimhaltung des Verweilortes Luthers und den Gründen für seine zwischenzeitliche Visite in Wittenberg im Dezember 1521 fokussiert. So sprechend die Quellen in vielerlei Hinsicht sind, so sehr sind dennoch hypothetische Rekonstruktionen insbesondere zur Beantwortung der einleitend gestellten Fragen im Interesse einer kohärenten Darstellung notwendig. Uwe Schirmer erläutert die nachlassende Bedeutung der Wartburg für das ernestinische Kursachsen. Daniel Görres und Thomas Klinke kontextualisieren die Darstellung Luthers als »Junker Jörg« durch Lukas Cranach d. Ä.

Die Tagung wurde mit zwei Abendvorträgen von Johannes Schilling und Elke Anna Werner beschlossen, die einen Überblick zur Bedeutung der Biblia Deutsch und die Beziehungsgeschichte von Luther, Cranach und der Bibel in interdisziplinärer Perspektive bieten.

Im Grunde greift der Titel des Sammelbandes »Luther auf der Wartburg 1521/22« zu kurz. Der Band enthält sehr viel mehr. Zu Recht betont der Untertitel die Stichwörter »Bibelübersetzung – Bibeldruck – Wirkungsgeschichte«. Der Eventcharakter von Luthers Ingewahrsamnahme wird wohltuend durch minutiös recherchierte Beiträge zum mit der Wartburg verbundenen, nachhaltig wirkenden Geschehen der Bibelübersetzung und ihres historischen Kontextes nivelliert. Er stellt damit ein wichtiges, un- verzichtbares und gleichwohl auch populärwissenschaftlich gut lesbares Pendant zu der Vielzahl an popularisierenden Erinnerungsschriften zur Reformation in Deutschland dar. Die inter- disziplinäre Anlage der Sammlung ist hoch anzuerkennen. Gleichwohl bieten die Beiträge noch etliche Ansatzpunkte zur Fortsetzung der eingeschlagenen Forschungswege. Besonders in interdisziplinärer Perspektive ist die frühe Reformation noch lange nicht »ausgeforscht«.