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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

302-304

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schmid, Konrad [Hg.]

Titel/Untertitel:

Heilige Schriften in der Kritik. XVII. Europäischer Kongress für Theologie (5.–8. September 2021 in Zürich).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 708 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 68. Geb. EUR 148,00. ISBN 9783374072279.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Unter den Gegebenheiten einer sich immer mehr ausdifferenzierenden theologischen Forschung ist die alle Disziplinen übergreifende Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie (WGTh) ein wichtiges Forum für die fachliche Profilierung und gegenseitige Verständigung innerhalb der Theologie. Beim jüngsten, hier dokumentierten 17. Kongress der WGTh wurde ein für alle Fächer der evangelischen Theologie gleichermaßen zentrales Thema behandelt: Es ging um die Frage nach den gegenwärtigen Bedingungen und Möglichkeiten, von der Bibel, für die es »keine besondere Sakralhermeneutik« geben kann (so Konrad Schmid in seiner Einleitung, 14), als von einer »Heiligen Schrift« zu sprechen, welche aktuell religiöse Evidenz und Orientierung beanspruchen kann. Präzise macht der Plural im Titel des Bandes deutlich, dass nicht nur die Bibel des Alten und Neuen Testaments, sondern auch heilige Schriften anderer Religionen im Blickfeld des Kongresses lagen. In der Sektion »Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie« ging es u. a. um die Schrifthermeneutik bei der Koranexegese (Rüdiger Braun, 503–528) und um die Verschriftlichung heiliger Texte im Yezidentum (Thorsten Wettich, 529–541). Außerdem beschäftigte sich einer der Hauptvorträge mit der jüdischen Bibelkritik in Antike und Mittelalter (René Bloch, 63–76).

An den 41 Beiträgen (darunter 13 von Wissenschaftlerinnen) sind alle theologischen Disziplinen beteiligt. Eine Besonderheit bei diesem Kongress waren die drei Dialogforen, in denen jeweils zwei verschiedene Fachgruppen gemeinsam tagten: I. Altes Testament und Systematische Theologie, II. Neues Testament und Praktische Theologie, III. Kirchengeschichte und Religionswissenschaft/Interkulturelle Theologie. Diese dritte Sektion des Bandes mit zehn dialogischen Vorträgen (547–686) führte zu so zentralen und aktuellen Themen wie »Orientierung und Irritation. Zur Relevanz des Alten Testaments im Licht von Exegese und Hermeneutik« (Friedhelm Hartenstein und Christine Schliesser, 547–568). Danach haben biblische Ethiken vor allem einen Bildungsauftrag, indem sie angesichts von (z. B. antisemitischen) Klischees zur Klärung und Differenzierung beitragen (550). Prägnant formuliert an anderer Stelle Andreas Schüle (163–184), beim Kongressthema gehe es auch »um die Kritik an der kritischen Bibelwissenschaft« (164), und Jan Dietrich (219–236) merkt unter Rückgriff auf Kant an, bei der Exegese sei es nötig, »die Vernunft zu bestimmen und die Grenzen aufzuzeigen, die der Vernunft gezogen sind« (219).

Albrecht Beutel erinnert in seinem Vortrag »Aufgeklärte Bibel – biblische Aufklärung« (37–62) an die historischen Ursprünge der heute geläufigen Bibelkritik. Bis zur Aufklärung bestand die theologische Vorlesung aus der Erklärung eines biblischen Kapitels mit folgenden dogmatischen und homiletischen Applikationen, so dass sich eine »organische Vernetzung« verschiedener Interessen ergab (59). Erst in der Epoche der Aufklärung entwickelte sich die historisch-kritische Exegese zu einer »Spezialaufgabe«, die sich aus der gesamttheologischen Einbettung löste. Zugleich entstand die Emanzipation des privaten Bibelgebrauchs »von jeder kirchlichen oder wissenschaftlichen Deutungshoheit«, so dass man von einer legitimen hermeneutischen »Mehrspurigkeit« als Produkt der Aufklärung sprechen kann (61).

Eine vielfach beim Kongress formulierte Einsicht lautete nach Christiane Tietz (185–201), dass die historische Kritik wegen der historischen Verwurzelung des christlichen Glaubens nötig sei, denn das Christentum sei eben keine allgemein-überzeitliche Lehre, sondern es entstand in bestimmten historischen Kontexten (188). Impliziert dies die einschlägige historische Forschung, so entsteht die aktuelle Problemstellung dadurch, dass die biblische Exegese stärker in philologische und archäologische Forschungsverbünde eingebunden ist als in die Theologie, stellt Jörg Lauster in seinem Eröffnungsvortrag fest (19–33: 26). Zudem gehöre es gerade zum Erbe des historischen Denkens, sich für die Vergangenheit als Vergangenheit zu interessieren – »ohne Aktualisierungsabsichten« (29). Insofern trat der Kongress beiden Tendenzen entgegen. Schon die Einbindung der historischen Kritik in den theologischen Kontext warf die Fragen nach ihrer Relevanz und ihrer Bedeutung für den gegenwärtigen Glauben auf. Gerade die religiöse Bildung »kann und darf« an dem, was es hermeneutisch »zu wissen gibt, in keiner Weise vorbeigehen«, unterstreicht Martina Kumlehn (77–92) in ihrem bibeldidaktischen Hauptvortrag (84).

Welche Bedeutung also hat die Bibel als »Schrift«? Die prägnante, aber sachlich fatale (und falsche) Spitzenformulierung von Lauster, das Wort »Schriftprinzip« sei ein Begriff »aus der Mottenkiste von Konfessionskriegern« (32), findet ihren Widerspruch nicht nur in der ökumenischen Diskussion zur Bibelhermeneutik, sondern auch in dem gesammelten Bemühen des anzuzeigenden Bandes. Selbstverständlich kann das Schriftprinzip unter den gegenwärtigen Umständen immer nur im diskursiven und nicht im literalistisch normativen Sinne gemeint sein. Schon Origenes wollte den »Aufweis von Spannungen und theologisch anstößigen Vorstellungen« als Bestandteil seiner Inspirationslehre verstanden wissen, was Holger Strutwolf in seinem Beitrag zu Kelsos und Origenes deutlich macht (333–350: 349). Theologisch geht es immer wieder um die Selbstverständigung im Horizont der Bibel und der Bibelwissenschaft. Diese Selbstverständigung ist essentiell für die evangelische Theologie. Umso bedauerlicher ist es, dass sich in dem Band kein Beitrag aus der römisch-katholischen Theologie findet.

Von besonderem Gewicht für die Schrifthermeneutik ist die neutestamentliche Wissenschaft, weil es bei diesem Teil der Bibellektüre darum geht, die Lebensgeschichte Jesu und die jeweilige Glaubensgeschichte zu korrelieren. Insbesondere die aktuelle »within-Judaism«-Debatte hat die Frage aufgeworfen, ob das Christentum des 1. Jahrhunderts überhaupt vom Judentum zu unterscheiden ist und ob die neutestamentlichen Texte darum auf dasjenige hin gelesen werden können, »was Christum treibet«. Paul-Gerhard Klumbies (275–286) schafft hier Klarheit, indem er die einschlägige historische Exegese befürwortet, ohne sich mit dieser zu begnügen. Die »theologisch orientierte Exegese« setzt bei dem Verweischarakter der Texte an, denn »ihr Gegenstand ist das Glaubensgeschehen, das der Textentstehung vorausliegt« (283). Das Glaubensgeschehen ist in seinen Konturen in den Sprachgestaltungen der Texte erkennbar, weil die Texte den Christusglauben als einen historischen Zusammenhang erschließen (285). Zusammengefasst: »Historisch ist Jesus ein Exponent jüdischer Tradition. Diese Zugehörigkeit zum Judentum ist jedoch nicht der Grund, warum seine Person für die Christusglaubenden Bedeutung gewonnen hat. Vielmehr sind jüdisch lebende Menschen wie Petrus und Paulus einem Impuls gefolgt, mit Blick auf Jesus ihre jüdischen Grundannahmen zu reformulieren.« (286)

Nach der Lektüre des Bandes wird man insgesamt feststellen können, dass das Ziel des Kongresses, ein Thema von disziplinenübergreifender und aktueller Bedeutung zu bearbeiten, bei aller Multiperspektivität und Pluralität erreicht worden ist. Der Grundsatz, die religiöse Wichtigkeit eines historischen Ereignisses der Kritik auszusetzen, bleibt gewiss unwidersprochen; aber das Ziel, dieses auch für die gegenwärtige Lebensgewissheit als schlechthin entscheidend zu profilieren, ist eine bleibende, religiös und religionsphilosophisch anspruchsvolle Aufgabe. Die Theologie kann sich weder mit der allgemein plausiblen historischen Relativität begnügen, noch kann sie sich auf die Wiederholung von Bekenntnissätzen zurückziehen. Theologie muss vielmehr anhand von historischen Hypothesen, die nach aktuellen Forschungsstandards erhoben wurden, aufzuzeigen suchen, inwiefern sich christliche Glaubenseinsichten in, mit und unter den historischen Zusammenhängen aktuell erschließen. Dabei ist eine »Zweisprachigkeit« erforderlich, die den Glauben innertheologisch plausibel und außertheologisch nachvollziehbar macht. Darauf weist Christine Schliesser unter Rückgriff auf Dietrich Bonhoeffer und Jürgen Habermas hin. Sie fügt aber zu Recht hinzu, dass zentrale Prämissen wie der Glaube an die Existenz Gottes schwerlich übersetzt werden können (565 f.).

Der Band ist gut lektoriert und korrigiert; er enthält ein Bibelstellen- sowie ein Gesamtregister.