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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

296-299

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Burke, Tony [Ed.]

Titel/Untertitel:

New Testament Apocrypha. Vol. 3: More Noncanonical Scriptures.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Eerdmans 2023. 713 S. Geb. US$ 85,00. ISBN 9780802877932.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Drei Jahre nach Band 2 (Rez. von C. Böttrich in ThLZ 146/5, 2021, 399–401) und sieben Jahre nach Band 1 (Rez. von J. Schröter in ThLZ 143/5, 2018, 462–466) liegt nun auch der dritte Band dieses ambitionierten Projektes (MNTA) vor. Konzipiert als »sister publication« zu den von R. Bauckham, J. R. Davila und A. Panayotov 2013 herausgegebenen »Old Testament Pseudepigrapha. More Noncanonical Scriptures« (MOTP), hat es dieselben inzwischen an Umfang und Materialfülle übertroffen. Schon in MNTA 2, xviii–xix, war eine »preliminary list« mit 34 weiteren Texten als Programm für Band 3 annonciert worden. Davon unterscheidet sich der hier präsentierte Bestand nur geringfügig.

Band 3 enthält 29 Texte; 29 Autoren und Autorinnen sind daran beteiligt, teils wiederholt, teils im Team. 15 dieser Texte erscheinen hier zum ersten Mal in einer englischen Übersetzung, sechs überhaupt zum ersten Mal in einer modernen Sprache; fünf Texte basieren auf eigens erstellten kritischen Editionen des Urtextes. Das Material bleibt so disparat wie in den Bänden 1 und 2: zeitlich spannt sich ein weiter Bogen; alle Sprachen des christl. Orients und Okzidents finden sich in den Quellen versammelt; vermuteter Ursprung und Überlieferung liegen mitunter weit auseinander. Neben umfangreichen Erzählungen stehen kurze, fragmentarische Episoden. Entsprechend groß ist auch die formale Vielfalt, die eine Klassifikation kaum gestattet. Allein aus pragmatischen Gründen hatten schon Band 1 und 2 vom kanonischen Vorbild die Einteilung in Evangelien, Apostelgeschichten, Briefe, Apokalypsen (und zusätzlich in Band 2 auch Kirchenordnungen) übernommen, stets um den Zusatz »and related traditions« erweitert. Durchgängig ist jedoch die Überzeugung leitend, dass dieser Literaturbereich seinen Eigenwert hat und unabhängig von einem mehr oder weniger engen Bezug auf das Neue Testament studiert werden muss. Der Apokryphenbegriff lässt sich deshalb nur in seinem weites-ten Verständnis fassen: Apokryphen sind religiöse Texte primären (nicht kommentierenden) Charakters über (in diesem Falle) neutestamentliche Figuren und Ereignisse.

Zu den 29 Schriften selbst müssen einige Schlaglichter genügen. Acht Texte führen in den Bereich der Evangelien. »The Hospitality and Perfume of the Bandit« ist eine weitere Episode aus der Vorgeschichte des »guten Schächers« im Zusammenhang von Ps-Matthäus, die den Ursprung des Salböls aus Lk 7,38 erklärt. Von einem gleichlautenden Titel bei Origenes zu unterscheiden ist »The Gospel of the Twelve Apostles«, das im späten 7. Jh. die Begegnung der syr. Christenheit mit dem Islam widerspiegelt; von Interesse sind drei Offenbarungsreden des Auferstandenen auf dem Berg der Verklärung. Der im byzantinisch-slavischen Bereich populäre »Dialogue between Jesus and the Devil« nimmt auf Mt 4/Lk 4 Bezug, enthält aber weniger die »Versuchung« als ein theologisches Lehrgespräch, bei dem am Ende die Figur des Teufels mit der des Antichrists verschmilzt. »The Story of the Image of Edessa« stellt die weit verbreitete Abgarlegende vor und schickt der Übersetzung eine ausführliche, kundige Einleitung voraus. In der altenglischen Literatur nimmt das 156-zeilige Poem »The Dream of the Rood« eine herausragende Stellung ein; das heilige Kreuz selbst erzählt dem Träumenden seine Geschichte und legt dabei Zeugnis für die souveräne Selbsthingabe Christi ab. Hagiographische Züge trägt »The Eremitic Life of Mary Magdalene« – ein relativ kurzer lateinischer Text aus dem 9. Jh., der seine nächste Parallele in der Vita der Maria Aegyptiaca hat; er macht seine Hauptfigur zur ersten »Wüsten-Mutter«, deren Seele schließlich nach Rückkehr in die Gemeinschaft und Feier der Eucharistie zu Gott erhoben wird. Eine Kombination aus Elementen der Synoptiker, des Protev und der Pilatusliteratur ist »The Martyrdom of Zechariah«, verbreitet in der byzantinisch-slavischen Literatur; eigentümlich ist jene Episode, nach der die Erzengel das Kind Johannes aus dem Gebirge und das Kind Jesus aus Ägypten in den Tempel bringen, Zacharias kurzzeitig wiederbeleben und den »Herrn« Johannes und seinen Vater taufen lassen. Thematisch eng schließt sich »The Decapitation of John the Forerunner« an; einzelne Besonderheiten, etwa zur Bestattung des Täufers, erweisen die Erzählung jedoch als eigenständigen Text.

Dreizehn Texte bewegen sich im Bereich der Apostelakten; mit 240 Abschnitten am längsten sind die Akten des Johannes, von seinem Schüler Prochorus aufgezeichnet; am kürzesten ist die von Irenäus berichtete Begegnung zwischen dem Evangelisten Johannes und dem Gnostiker Kerinth in einem Bad in Ephesus. Beachtung verdient in »The Acts of Andrew and Paul«, einem koptischen fragmentarischen Text, die Erkundung des Hades durch Paulus; seine Begegnung mit Judas entwirft ein neues, überraschend verständnisvolles Bild des »Verräters«. Auferweckungswunder und redende Tiere spielen in »The Acts of Andrew and Philemon« eine auffällige Rolle. »The Story of John Meeting Cerinthus« kontextualisiert die bekannte Episode aus Irenäus, Haer III. »The Acts of John in Rome« erzählen, wie Johannes verhaftet, nach Rom transportiert, vor dem Kaiser verhört und schließlich nach Patmos verbannt wird; dass er den probehalber verabreichten Giftbecher überlebt, beweist die Macht seines Gottes. Ein Schwergewicht sind »The Acts of John by Prochorus«; dieser Apostelroman (vermutlich aus dem 6. Jh.) ist in zahlreichen Manuskripten und Übersetzungen weit verbreitet gewesen; für die Johannes-Legende stellt er ein wichtiges Sammelbecken dar; viele Szenen haben idealtypischen Charakter; originell ist die Begegnung des Evangelisten mit Philo von Alexandrien, der sich daraufhin bekehrt. »The Memorial of John« bietet eine Art Biogramm des Evangelisten, wie es in einigen ntl. Minuskeln des 11.–16. Jh.s zu finden ist; das Evangelium wird Johannes auf einem Berg und im Wettersturm offenbart, Prochorus schreibt es nieder. »The Martyrdom of Mark« bringt die Verbindung des Evangelisten mit Alexandrien zur Darstellung; erfolgreiche Mission und dramatisches Ende sind die beiden Hauptpunkte. Das syr. Apokryphon »The History of Paul« referiert in Kurzfassung die Vita des Paulus nach der Apostelgeschichte des Lukas, um schließlich zu ergänzen, was dort fehlt: eine Reise nach Spanien und den Prozess vor Nero; als eigentümlich erweist sich die abschließende Legende von den beiden wundertätigen Bäumen, die am Ort des Martyriums von Petrus und Paulus aufsprießen. Ebenfalls zur syr. Christenheit gehört »The Preaching of Simon Cephas in the City of Rome«; die Erzählung skizziert eine komprimierte Version der Petruslegende aus Predigt, Konflikt mit Simon Magus, Gemeindegründung und Martyrium. »The Disputation of Peter and Nero«, ein syr. Poem in Form eines Akrostichons, lässt in einem kürzeren Dialogteil Nero und seine Soldaten, in einem längeren Nero und Petrus die Bedeutung der christlichen Lehre verhandeln. Eine merkwürdige (byz.-slav.) Geschichte erzählen »The Acts of Christ and Peter in Rome«: Petrus, der als Asket in der Einsamkeit lebt, wird von dem Auferstandenen zur Reise nach Rom aufgefordert und begleitet – allerdings in einem dreifachen Inkognito als Jüngling, als Seemann und als Kind; erst im Martyrium des Petrus offenbart das Kind seine wahre Identität. In den Kontext einer lateinischen Erzählung über die Zerstörung Jerusalems gehören »The Passion of Peter and Paul«, bestehend aus einer eigenständigen Kombination bekannter Versatzstücke namentlich aus der Petruslegende. »The Preaching of Philip« (kopt.) handelt von der Mission des Philippus und Petrus in einer Stadt namens Phrygia; im Zentrum steht der Konflikt um einen Götzen namens »falcon«.

Drei Texte nutzen das Genre der Briefliteratur. »The Correspondence of Ignatius with John the Evangelist and the Virgin Mary« präsentiert vier kurze Schreiben, die um die Anbahnung einer Begegnung kreisen; die Gottesmutter und Johannes treten dabei als frühchristliche Prominenz ins Bild. »The Epistle of James to Quadratus« ist besorgt um die Reaktion des Kaisers Tiberius auf den Bericht des Pilatus über die Jerusalemer Ereignisse. »The Epistles of Longinus, Augustus, Ursinius, and Patrophilus« bietet drei kurze Schreiben mit Stimmen von »Zeitzeugen« zu den Magiern (Mt 2), zur Kreuzigung Jesu und zum Missionserfolg der Jerusalemer Gemeinde.

Der letzte Teil enthält fünf apokalyptische Texte. Schon der erste Text macht die Problematik einer solchen Zuordnung sichtbar: »The Revelation about the Lord’s Prayer« ist ein Frage- und Antwortspiel des Auferstandenen, der sich den Schülern auf dem Ölberg offenbart und sein Gebetsvermächtnis Punkt für Punkt kommentiert. Vergleichbar ist die Situation in »The Dialogue of Mary and Christ on the Departure of the Soul«; hier fragt die Gottesmutter ihren sich offenbarenden Sohn nach jenem Moment, in dem die Seele den Sterbenden verlässt, und erhält Auskunft über die dabei agierenden Engel. Einer der interessantesten Texte dürften »The Questions of John (Interrogatio Iohannis)« sein, denn hierbei handelt es sich um eines der wenigen authentischen Zeugnisse der häretischen Katharer (12.–14. Jh.), möglicherweise unter dem Einfluss der bulgar. Bogumilen; deren dualistische Schöpfungslehre sowie die Erzählung vom Fall Satans haben sich in diesem Text auf profilierte Weise niedergeschlagen. Die »1 Revelation of Matthew about the End Times« enthält Instruktionen, die Jesus kurz vor dem Einzug in Jerusalem Matthäus erteilt; sie schöpfen aus den kanonischen Texten und aus Ps-Methodius; charakteristisch ist der detaillierte »Steckbrief« des Antichrists. Einen völlig anderen Text bietet die »2 Revelation of Matthew about the End Times«, in der vor allem Vorzeichenreihen (vor Beginn der Endzeit, vor dem Auftreten des Antichrists, vor dem Gericht) im Mittelpunkt stehen; im Gericht wird Christus seine Leidenswerkzeuge vorweisen.

Alle Texte werden in solider, zuverlässiger Weise aufgearbeitet. In jedem Falle basieren sie auf neuen, eigenständigen Forschungen. Ausführliche Einleitungen bieten ein Optimum an Information über Quellen, Forschungsstand und theologisches Profil. Fußnotenkommentare bleiben auf Lesarten konzentriert oder klären dunkle Sachverhalte auf; Randglossen weisen Parallelen und Bezüge nach. Alle Übersetzungen sind übersichtlich gegliedert, mit hilfreichen Zwischenüberschriften und einem ansprechenden Layout versehen. Allein unter den Indices vermisst man erneut ein Verzeichnis der Eigennamen, die in den Quellen enthalten sind.

Nach drei Bänden mit insgesamt 87 bislang eher unbekannten Texten wird man sicher nicht mehr von einer »Spitze des Eisbergs« sprechen können. Doch erschöpfend sind solche Sammlungen nie. Dem Herausgeber und seinem Team gilt deshalb ein aufrichtiger Dank und die Bitte, die Community auch noch mit einem vierten Band zu beschenken!