Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2024

Spalte:

293-295

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Zingg, Andreas

Titel/Untertitel:

Von und mit Israel hoffen lernen. Friedrich-Wilhelm Marquardts Eschatologie und ihre Implikationen für Theologie und Kirche.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2023. 281 S. = Judentum und Christentum, 28. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783170434004.

Rezensent:

Ernst Michael Dörrfuß

In seiner von Magdalena L. Frettlöh betreuten Berner Dissertation – Zweitgutachter der mit dem Hans-Ehrenberg-Wissenschaftspreis 2021 ausgezeichneten Arbeit war Rinse H. Reeling Brower, Amsterdam – untersucht ihr Autor Andreas Zingg die Eschatologie Friedrich-Wilhelm Marquardts (1928–2002). Den hierzu in den Jahren 1993–1996 publizierten drei Bänden hat Marquardt den Titel »Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?« gegeben. Damit hat er – so Z. zusammenfassend – zum Ausdruck gebracht: »Wir dürfen [...] nur dann hoffen, wenn Gott auch wirklich lebt. Gleichzeitig dürfen wir hoffen, dass Gott will und lebt, wenn die Theologie Auschwitz nicht verdrängt.« (26)

Die Studie gliedert sich in eine »Einstimmung« (11–28: »Friedrich–Wilhelm Marquardts von Israelverbindlichkeit durchwirkte Eschatologie«) und eine Einleitung« (29–80: »Warum und wie Texte Friedrich-Wilhelm Marquardts lesen?«) sowie zwei Hauptteile. Der erste – »Marquardts israelverbindliche Eschatologie in ausgewählten Motiven« (81–202) – erörtert fünf aus der Sicht Z.s für Marquardts Dogmatik tragende Motive. Der zweite Hauptteil (203–250) fragt nach »Implikationen der israelverbindlichen Eschatologie Marquardts für Theologie und Kirche«. Ihm folgt ein Ausblick »Mit Marquardt über Marquardt hinaus zu einer lebensverbindlichen Theologie und Kirche« (251–267).

Die »Einstimmung« erläutert »israelbezogene biographische Hintergründe« Marquardts, skizziert die Entstehung der siebenbändigen Dogmatik – die »in einem erschütterten wie erschütternden Masse« »Theologie nach Auschwitz« ist (21) und benennt als »Grundspannung« der Eschatologie die »Umkehrung des traditionellen etsi deus non daretur« sowie die »radikale theologische Verschärfung des eschatologischen Vorbehalts aus Jak 4,15« (21).

Nach Z.s Überzeugung sind Marquardts Texte – durchweg »Redehilfe im Israelschweigen« (30) – insbesondere aufgrund ihrer Radikalität und ihrer Mahnung zur Verbindlichkeit lesenswert (29). Marquardts »israelverbindliche Eschatologie [ist] in ihrer Grundanlage, ihrer Systematik und auch ihrer Radikalität einzigartig« (47 f.). (Hermeneutischen) Grundfragen zur Arbeit an Texten Marquardts (64–72) schließt sich die exemplarische Untersuchung eines kurzen Abschnittes aus dem ersten Band der Eschatologie an (73 ff.). Sie führt zur Benennung von fünf Motiven, die jeweils entfaltet, gewürdigt und dann kritisch befragt werden.

Im Kontext der Überlegungen zum ersten Motiv (»Israel zeigt die Fraglichkeit Gottes und ist zugleich der Grund christlicher Hoffnung« [81–105]) wird u. a. konstatiert, dass Marquardt Eschatologie als »hoffnungsvolle Lehre von der Weltveränderung« versteht (83). Marquardts Auschwitzinterpretation sei – so Z. – »historisch unterkomplex und pauschalisierend« (81). Er fragt, ob Marquardt seine jüdischen Gesprächspartner instrumentalisiere (85), und bringt Marquardts »gegenständlichen Israelbegriff« (96) mit jüdischen Stimmen zur Sache ins Gespräch (97 ff.).

Im Blick auf das zweite Motiv (»Israelgeschichtlichkeit ist Prototyp für allgemeinmenschliche Geschichtlichkeit« [106–127]) hält Z. fest, dass Marquardt »die Geschichte Israels konsequent hoffnungstheologisch« lese, wobei »Geschichtlichkeit […] für ihn der unabgeschlossene und auf Zukunft hinlaufende Prozess, der Weg Gottes mit den Menschen und der Schöpfung« sei (106). Marquardt versäume es, geschichtstheologisch und -theoretisch zu argumentieren (119). Er verkläre die Geschichte Israels (vgl. 120), vereinfache die Vielschichtigkeit der von ihm in den Blick genommen biblischen Geschichten und nehme die Widersprüchlichkeit von Geschichte nicht ausreichend auf (127).

Bei der Reflektion des dritten Motivs (»In Israel ist der hoffnungsvolle Zusammenhang von Verheissung und Gebot gegeben« [128–159]) verweist Z. auf Marquardts Verständnis der Verheißung als »Offenbarungsgeschehen Gottes« (128). Das »Leben der Tora bzw. der Gebote muss laut Marquardt konkret, aber nicht praktizistisch geschehen« (145). Marquardts Spiritualisierung der Landverheißung wird hinterfragt, und es wird überlegt, ob Marquardts Gebotsverständnis das menschliche Tun relativiere (152 ff.).

Im Blick auf das vierte Motiv »Jesus von Nazareth begründet in seinem Befolgen der Tora christliches Hoffen« (160–183) fragt Z., ob Marquardt »dem Juden Jesus die Göttlichkeit« abspreche (160). Da Marquardts Christologie »nur unter eschatologischem Vorzeichen zu verstehen« sei (170), sei seine Eschatologie »auf den Juden Jesus von Nazareth angewiesen«, der als »geborener Jude die Geschichte Israels als eine Geschichte Gottes mit den Menschen qualifiziert« (183).

Im Blick auf das fünfte Motiv (»Gott, der Richter als Hoffnungsträger für alle Menschen« [184–202]) attestiert Z. Marquardt »ein beziehungsfundiertes Gerichtsverständnis, weil die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk eine Rechtsbeziehung ist« (184). Marquardts Gerichtsvorstellung sei durchaus mit biblischen und »auch jüdischen Gerichtsbildern von Vernichtung und Verwerfung« vereinbar (195). Die Frage, ob die bei Marquardt entfaltete Vorstellung von der »Selbstrechtfertigung Gottes ein universeller Hoffnungsgrund« sei (197), beantwortet Z. »positiv« (202).

Die Fragestellung des Dritten Hauptteiles nimmt ernst, dass Marquardt seine Theologie bewusst in den Zusammenhang der Kirche stellt. Sowohl vom bei Marquardt entfalteten Gottesbild (203–210) her als auch im Blick auf die »Geschichtsverbundenheit« (210–217), die Rede von Gottes Verheißungen (217–225), Gottes Gebote (226–236), die Christologie (236–242) oder das kommende Gericht (242–250) zieht Z. Linien. So plädiert Z. – um nur einige Bespiele zu nennen – vom bei Marquardt angelegten »offenen« Gottesbegriff her für »eine offene liturgische Sprache« sowie »eine Spiritualität des Fragens, der Uneindeutigkeit und Vielschichtigkeit« (210). Marquardts Theologie könne als »Grundlage für ein diskursives Geschichtsbild« dienen (213) und verweise so auf die Notwendigkeit eines »performativen Sprachduktus« in der kirchlichen Verkündigung (217). Marquardts umfangreiche Reflektion der noachidischen Gebote gebe Impulse, von denen her »die Kirche in Verkündigung, Zeugnis und Diakonie noachidisch gebotstreu leben« könne (235).

Der Ausblick (251–267) schließlich benennt die »Lebenswirklichkeit« als impliziten cantus firmus von Marquardts israelverbindlicher Eschatologie und entfaltet Perspektiven.

In Z.s Untersuchung wird seine Faszination für Marquardts Denken greifbar. Sein Versuch, Marquardts Theologie, die ausdrücklich kein stimmiges Theoriegebilde sein will (12) und die Z. u. a. als »irregulär« (64) bezeichnet, systematisch zu reflektieren und mit theologischen Diskursen ins Gespräch zu bringen, ist nachdenkenswert.

Z. zieht unterschiedliche Textgattungen und zu verschiedenen Zeiten entstandene Texte Marquardts heran, befragt – anders als Marquardt selbst – umfangreich Sekundärliteratur und sucht zu den einzelnen Themen den Diskurs mit alternativen Ansätzen – vgl. nur den Versuch, »Jürgen Moltmanns partnerschaftlich begründete christliche Israelbeziehung« als »ein produktives Korrektiv« für Marquardts »geschichtlich begründete Israelbeziehung« ins Feld zu führen (210). Viel Raum nimmt dabei – sachgemäß – das Gespräch mit jüdischen DenkerInnen ein.

Nicht zu überzeugen vermag die immer wieder aufscheinende Vorstellung, die Herausforderung der Theologie durch Auschwitz sei vor allem für die deutsche Theologie relevant (z. B. 72.93). Hier hat etwa die Studie »Kirche und Israel« der LKG (jetzt GEKE) im Jahr 2001 bewusst anders argumentiert. Und ob Z. sein im Vorwort formuliertes Ziel, »meine Gedanken so zu formulieren, dass sie für theologische Laien verständlich sind« (10), erreicht, kann offenbleiben. Dass bei Z. die Formulierung »Marquardt will aber gerade in der Eschatologie keine Endlösungen (sic!)« stehen blieb (60), muss – vorsichtig formuliert – irritieren.

In jedem Fall regt die Arbeit auf vielfältige Weise dazu an, die in Marquardts Theologie enthaltenen Perlen neu in den Blick zu nehmen und seinen einzigartigen theologischen Entwurf mit den Herausforderungen der Gegenwart ins Gespräch zu bringen sowie die von Marquardt gegebenen Impulse über den akademischen Diskurs hinaus für Lehre und Verkündigung der Kirche fruchtbar zu machen.