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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

230-232

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lange, Dietz

Titel/Untertitel:

Vertrauen: persönlich – öffentlich – religiös. Christlicher Glaube und die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 192 S. Kart. EUR 34. ISBN 9783374072514.

Rezensent:

Marco Hofheinz

Der inzwischen 90-jährige Göttinger Theologe Dietz Lange, der u. a. eine vielbeachtete Ethik (22002) und als opus magnum eine zweibändige Glaubenslehre (2001) vorgelegt hat, widmet sich in einer Art »Schwanengesang« noch einmal einem gleichermaßen für die gesellschaftliche Verfasstheit wie die kirchliche Praxis brisanten und höchst aktuellen Thema, nämlich dem Vertrauen als Thema des christlichen Glaubens und als Grundphänomen menschlichen Zusammenlebens. L. diagnostiziert eine nicht nur den persönlichen Nahbereich betreffende, sondern weit darüber hinausgehende sehr reale, diffuse, weit verbreitete und tiefgehende gesellschaftliche Vertrauenskrise« (10). Nahezu allenthalben ins Kraut schießende Phänomene wie die Ausbildung vielfältiger Verschwörungstheorien, gepaart mit einem tiefen Misstrauen gegenüber den öffentlichen Institutionen und einem sich in postfaktischen Welten verschanzenden (Rechts-)Populismus, sind die Symptome dieser Vertrauenskrise, die L. in den Blick nimmt (vgl. 12 f.).

Ohne Vertrauen jedoch, L. spricht vom »Grundvertrauen« als »einer existentiellen Einstellung des Selbst- und Weltvertrauens« (14), sei menschliches Zusammenleben auf allen seinen Ebenen nicht möglich – so die grundierende These der Untersuchung. Auf die eigentliche Ausgangsfrage der Untersuchung, ob der christliche Glaube einen Beitrag zur Bewältigung der gegenwärtigen Vertrauenskrise darstellt, antwortet L. differenziert, indem er zwischen spezifisch religiösen und allgemein vernünftig-pragmatischen Aspekten unterscheidet. Das Gottvertrauen bestimmt er diesbezüglich einerseits als letzten Grund zwischenmenschlichen Vertrauens und als Motivation zur engagierten und konstruktiven Mitarbeit an pragmatischen Lösungen und andererseits als Grenze zwischenmenschlichen Vertrauens. Grenze meint dabei, dass »man stets mit der Möglichkeit des Scheiterns rechnen, sich also darüber klar sein [muss], dass man Gottes Vorsehung nicht durchschaut. Nach dieser Seite hin wird das Gottvertrauen zur Quelle der gegenüber den massiven gegenwärtigen Vertrauensproblemen erforderlichen Geduld« (175).

Der Gang der Untersuchung vollzieht sich, wie bereits der Untertitel ausweist, in einem Dreischritt: Das persönliche Vertrauen zu einem einzelnen Menschen wird zum Vertrauen in bestehende gesellschaftliche Zustände bzw. Institutionen in Beziehung gesetzt und beide wiederum zur religiösen Dimension des Vertrauens (vgl. 11). Dementsprechend ist der Band auf der Makroebene strukturiert: Auf die phänomenologische Beschreibung des Vertrauens als konstitutiven Elements des Personseins (Kap. 3) folgt die Behandlung des damit in einem Wechselverhältnis stehenden öffentlichen Vertrauens (Kap. 4). Beide Kapitel werden in das Hauptkapitel (Kap. 5) der Untersuchung überführt, das sich dem religiösen Vertrauen widmet, und mit seinen zehn Unterkapiteln exakt den jeweils fünf Unterkapiteln der vorausgehenden Kapitel 3 und 4 entspricht. Diesem durchaus kunstvollen Aufbau sind die Einleitung (Kap. 1) und die sprachliche bzw. semantische Analyse des Wortfeldes Vertrauen vorgeschaltet. Der Band mündet im Anhang in eine gelungene homiletische Veranschaulichung in Gestalt einer Liedpredigt zu Klaus-Peter Hertzschs bekanntem »Wende-Lied« »Vertraut den neuen Wegen« (EG 395). Namens- und Sachregister schließen den Band ab.

L.s gelingt es in diesem Band, ein das Vertrauensphänomen sehr trefflich darstellendes »Landschaftsbild« (11) zu entwerfen, das die Lesenden durchaus in seinen Bann zieht. Dies vermögen etwa die Passagen, in denen er die Genese und Ursachen der öffentlichen Krise beschreibt (vgl. Kap. 4) oder die Kriterien der Vertrauenswürdigkeit, nämlich Wahrhaftigkeit, Integrität, Gerechtigkeit und Loyalität (vgl. 31), entfaltet und praktische Erfordernisse mit Blick auf das Rechtswesen, den Sozial- und Arbeitsbereich sowie die Politik benennt. Dazu gehört aber auch ein gewisses Spannungsmoment, das sich da abzeichnet, wo L. einerseits von einem Wechselverhältnis zwischen persönlichem und öffentlichem Vertrauen spricht und andererseits Letzteres als Ableitung bzw. abgeleitete Form von Ersterem bestimmt (vgl. 17). Zu dieser Bestimmung passt auch L.s Betonung, dass der Geist christlicher Liebe »seinen Sitz nicht in Kollektiven oder Institutionen, sondern in einzelnen, von Gottvertrauen getragenen, verantwortlichen Menschen« (174), habe. Dieser individualethische Akzent geht m. E. zu Lasten der Ekklesiologie und der formativen Verortung der einzelnen Gläubigen in der Kirche. Die Kirche tritt als Subjekt der Ethik zumindest in diesem Landschaftsbild nicht in Erscheinung. Zu fragen wäre auch pneumatologisch (und in der Folge dann auch sozialethisch), ob es nicht – wie Michael Welker dies zuletzt in seinen Gifford Lectures dargelegt hat (vgl. Michael Welker, Zum Bild Gottes. Eine Anthropologie des Geistes. Gifford Lectures 2019/20, Leipzig 2021) – so etwas wie Ausstrahlungen des göttlichen und menschlichen Geistes (vorsichtiger formuliert: »Gleichnisse des Himmelreiches«) in unseren Kulturen auch in ihrer ggf. institutionell manifest werdenden Konzentration auf Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit und Frieden gibt.

Positiv hervorzuheben ist die interdisziplinäre Anlage und Ausrichtung der Untersuchung, mithin der Umstand, dass L. in ein Gespräch gleich mit einer Reihe weiterer Disziplinen wie der Entwicklungspsychologie (etwa Erik H. Eriksons einschlägiger These vom »basic trust«, vgl. 43–48), Soziologie (57–71), Jurisprudenz (71–79), Politikwissenschaft (86–97) und vor allem, aber durchgehend der Philosophie (u. a. hinsichtlich der Anthropologie) eintritt. Zugleich scheut er nicht davor zurück, klassische theologische Themen wie die hoch umstrittene Vorsehungslehre (vgl. 104–131) aufzugreifen und Gottes Fürsorge für den einzelnen Menschen und die Geschicke dieser Welt auch hinsichtlich ihrer Anfechtungsdimension neu zu bedenken. Ob dies tatsächlich vor allem im Anschluss an Emanuel Hirsch und in Abgrenzung von Barths vermeintlichem »Gnadenmonismus« (138) hätte geschehen müssen, oder nochmals anders, darüber ließe sich trefflich streiten.

Als reformierter Theologe hätte ich mir gewünscht, dass L. den Bund Gottes mit seinem Volk als Vertrauensgrundlage in den Blick nimmt. Sowohl in seiner begrifflichen Analyse zu Beginn, als auch dem knappen theologiegeschichtlichen Referat zur altprotestantischen Dogmatik (123), als auch in der Liedpredigt am Schluss berührt er die Bundesthematik durchaus, wenn mit Hertzsch vom leuchtenden »Bogen Gottes am hohen Himmel« (179), also dem Bundesbogen, und von der dem Vertrauen sprachlich verwandten Treue die Rede ist, und L. betont: »[D]er Festigkeit des Vertrauens muss die Festigkeit der Treue entsprechen, wenn das Wagnis des Vertrauens gerechtfertigt sein soll.« (22) Die Treue Gottes kann m. E. als ein Topos der Bundestheologie verstanden werden. Auch an diesem Wunsch und den gestellten Rückfragen zeigt sich, wie anregend dieses Alterswerk ist. Es erweist sich und damit gewissermaßen auch den Autor als »junggeblieben«, denn aktueller und brisanter könnte seine Thematik nicht sein.