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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

210-212

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Blumrich, Elisabeth, Gerber, Simon u. Sarah Schmidt [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Friedrich Schleiermacher zwischen Reform und Restauration. Politische Konstellationen, theoretische Zugänge und das Berliner Stadtleben.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2023. 226 S. = Schleiermacher-Archiv, 36. Geb. EUR 89,95. ISBN 9783111059815.

Rezensent:

Christian Nottmeier

Dieser Sammelband dokumentiert ein Symposium der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) vom Mai 2021 und ist dem am 27. Januar 2020 im Alter von 79 Jahren verstorbenen Wolfgang Virmond gewidmet, der über Jahrzehnte Maßgebliches für die Edition der Schriften und insbesondere des Briefwechsels Schleiermachers an der Berliner Schleiermacher-Forschungsstelle der BBAW geleistet hat. Zugleich soll mit dem Band auch des am 10. Juli 2020 verstorbenen langjährigen Leiters der Kieler Schleiermacher-Forschungsstelle Günter Meckenstock gedacht werden. So ist dem Band ein kurzes Gedenkwort von Andreas Arndt (XVf) zusammen mit einem Grußwort des Akademiepräsidenten Christoph Markschies (IX–XII) vorangestellt.

Der Band selber widmet sich, wie die Herausgeber in ihrer umfangreichen und die Beiträge paraphrasierenden Einleitung (1–8) schreiben, Schleiermachers Wirken im zweiten Jahrzehnt des 19. Jh.s, das in der Tat neben dem theologischen Wirken wesentliche Etappen von Schleiermachers wissenschaftlicher, kirchenpolitischer und allgemeinpolitischer Tätigkeit umfasst.

Unterteilt ist der Band in vier große thematische Blöcke. Zunächst geht es um »Politische Konstellationen und theoretische Zugänge« (9–68). Wolfgang Neugebauer relativiert in seinem Beitrag »Zwischen Reform und Restauration? Preußen im frühen 19. Jahrhundert« einen allzu etatistischen Zugang, der sich nur auf das staatspolitische Wirken der Reformer selbst konzentriere. Vielmehr verweist er auf die Einsicht in die Notwendigkeit struktureller Reformen des preußischen Staates wie seiner Gesellschaft auch bei den vermeintlich konservativen adeligen Eliten. Neugebauer erläutert diese These ausführlich am Beispiel von Schleiermachers langjährigem Freund Alexander von Dohna-Schlobitten, der schon lange vor dem nie eingehaltenen Verfassungsversprechen Friedrich Wilhelms III. sich für »Preßfreiheit« und ein »Staatsgrundgesez« (20) eingesetzt hat. Neugebauer kann zudem auf Grund des Briefwechsels mit Schleiermacher und anderer archivarischer Quellen die inhaltliche Abstimmung der Überlegungen Dohnas mit denen Schleiermachers nachweisen. Beide verband auch ein zunehmendes – und in der Sache schließlich wohlbegründetes – Misstrauen gegenüber Hardenberg. Neugebauer arbeitet damit zugleich die überraschenden »Potentiale des Wandels« (25) von Teilen der preußischen Aristokratie in dieser Zeit nach.

Sarah Schmidt widmet sich dann »Schleiermachers Ethik des Wissens und der Wissenschaften« (31–56), zu der am Beispiel des Falls von Schleiermachers Kollegen de Wette die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit gehörte, die Schleiermacher nicht nur theo- retisch einforderte, sondern für die er sich auch praktisch einsetzte. Die Causa de Wette weitete sich deshalb zu einer Causa Schleiermacher. Dass die Versuche des Staats, Schleiermacher von der Universität zu entfernen, ins Leere liefen, lag auch daran, dass er »eine wendige Persönlichkeit mit starken Nerven [war], die auf der Klaviatur sprachlicher Verweigerungen spielen konnte, sich dazu gelegentlich auch dumm stellte und die Provokation gezielt dosierte, jemand, der es verstand, auf der Kante des Legitimen oder des Protestes sozusagen entlang zu surfen« (54).

Andreas Arndt bietet in seinem Beitrag instruktive Überlegungen »Zur systematischen Stellung von Schleiermachers Anthropologie« (57–67), die sich »dem System ohne Weiteres als das zur Empirie vermittelnde Korrelat der rationalen Psychologie in der Dialektik zuordnen« (67).

Im zweiten Block »Kirchenpolitik und kirchliche Praxis« (69–105) rekonstruiert Simon Gerber anhand des Briefwechsels Schleiermachers kirchenpolitisches Engagement (»Kirchenreform, Union und Synodalwesen in Schleiermachers Briefwechsel«, 71–91), während sich Arnulf von Scheliha dem Prediger und Ethiker Schleiermacher in seinem Beitrag »Die christlichen Häuser als ›Pflanzstätten‹ des künftigen Geschlechts. Familienethische, religionspädagogische und sozialethische Grundeinsichten in Friedrich Schleiermachers Predigten über den christlichen Hausstand« (93–105) zuwendet. Gerber gibt einen guten Überblick zu den Auseinandersetzungen um die Kirchenverfassung – von 1808 bis zum Einschlafen der Diskussion 1823 –, die schließlich von dem 1821 beginnenden Streit um die Agende überlagert wurden. Scheliha bietet eine präzise und erhellende Analyse der familienethischen Überlegungen Schleiermachers. Die 1818 gehaltenen Predigten entfalten demnach »zusammenhängend ein wesentliches Teilgebiet einer christlichen Sittenlehre« (94). Anders als in seinen Vorlesungen zur Christlichen Sittenlehre arbeite Schleiermacher hier im Kontext einer kritischen Zeitdiagnose »die de-ontologische Dimension des christlichen Ethos« (95) heraus. Besonders die sozialethischen Perspektiven in der abschließenden 9. Predigt über »die christliche Wohltätigkeit« liegen dem Autor am Herzen. Er erkennt hier einen klaren Impuls Schleiermachers, über das bürgerliche Vereinswesen die Strukturen der Kirche zu modernisieren. Zugleich finde sich bereits bei Schleiermacher das eben nicht nur in der neueren katholischen Soziallehre entwickelte Prinzip der Subsidiarität, »nach dem der liberale Staat kirchliche Träger mit der Wahrnehmung sozialer Aufgaben beauftragt, die sowohl den Staat selbst als auch die Einzelnen überfordern würden« (103).

Im dritten Themenblock »Kunst und Kultur in Berlin« behandelt Bernhard Schmidt »Schleiermacher und die Musik« (109–133) und gibt einen überaus instruktiven Einblick in dessen Bezüge nicht nur zum kirchlichen Musikleben – hier natürlich mit dem Schwerpunkt auf die pfarramtliche Tätigkeit in der Dreifaltigkeitskirche –, sondern ebenso zum bürgerlichen Musikleben der Hauptstadt, das Schleiermacher breit rezipierte. Ähnlich aufschlussreich sind die Beiträge von Klaus Gerlach (»Theater und freie Geselligkeit. Schleiermachers und Ifflands Ansichten zur Kommunikation im Theater«, 135–145) und Holden Kelm (»Architektur als erstarrte Zeitgeschichte. Schleiermachers Architekturästhetik in Hinblick auf das historische Zentrum Berlins«, 147–165).

Im abschließenden vierten Teil »Netzwerke und Wege« wird zum einen durch Lou Klappenbach, Frederike Neuber und Jan Wierzoch die Publikationsplattform »schleiermacher digital« (183–196) vorgestellt. Einen wirklichen Höhepunkt stellt aber Elisabeth Blumrichs Beitrag »Berliner Orte. Schleiermachers Wege nach Auskunft der Tageskalender« (169–181) dar. Hier kann der Leser Schleiermachers Wege von der Wohnung in der Wilhelmstraße über die Dreifaltigkeitskirche zu Universität und Akademie wie an andere wichtige städtische Orte mitgehen. In diesem Beitrag zeigt sich ein Vorzug, der sich zugleich für den ganzen Band feststellen lässt: die gute komponierte und höchst anschauliche Auswahl der Bilder und Abbildungen. Nicht nur im zuletzt erwähnten Beitrag kommt dies dem gesamten, sehr gelungenen Band zu Gute.