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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

208-210

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schaper, Joachim, u. Volker Leppin [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Reformation und frühbürgerliche Revolution. Neue Studien.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 292 S. Kart. EUR 78,00. ISBN 9783374073962.

Rezensent:

Ingo Klitzsch

»Reformation und frühbürgerliche Revolution« – ein Titel, der vor dem Hintergrund der getrennten deutschen Forschungsgeschichte der 1960er–1980er Jahre aufhorchen lässt, bringt er doch zwei Ansätze zusammen, die kaum schiedlich-friedlich miteinander verbunden waren. Die Positionen waren dabei »im Wesentlichen gemäß der Grenzziehungen des Kalten Krieges« (5) verteilt, wie das knappe zweiseitige Vorwort der Herausgeber in Erinnerung ruft. Da dieser Streit um Luthers Bewertung in besonderer Weise mit der Beurteilung seiner Rolle im Bauernkrieg zusammenhing, liegt die Vermutung nahe, der Band sei mit Blick auf das Jubiläumsjahr 1525 entstanden. Tatsächlich ist er aber grundgelegt in einem geis-teswissenschaftlichen Kolleg der Studienstiftung des deutschen Volkes, das bereits in den Jahren 2013–2015 stattgefunden hat, bewusst im Vorfeld des großen Reformationsjubiläums von 2017. Dieses Kolleg brachte inhaltlich kirchen-, sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven, formal zukünftige Wissenschaftler und Professoren miteinander ins Gespräch; die Erträge werden jetzt mit einem Abstand von knapp zehn Jahren der Öffentlichkeit präsentiert. Diese Genese erklärt die sehr unterschiedliche institutionelle wie fachliche Verortung der Beitragenden.

Neben das Vorwort tritt eine allein von Joachim Schaper verantwortete Hinführung (9–21). Darin benennt der Professor für Hebräisch und semitische Sprachen der Universität Aberdeen das marxistische »Theorem von Basis und Überbau« als den zentralen, von beiden Seiten nicht explizit thematisierten Hintergrund, der mit dem Mauerfall nicht beendeten, sondern nur nicht fortgeführten Debatte. Diese Überlegungen bilden die Basis der weiteren, vom Titel her so nicht unbedingt erwartbaren, inhaltlichen Ausgestaltung des Bandes.

So fragt der inzwischen als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Innsbrucker Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie wirkende R. F. Nießner nach dem Einfluss von Karl Marx auf Ernst Troeltsch und von hier nach dem Niederschlag des »Basis-Überbau-Theorems«. Damit »unterfüttert« er gleichsam Schapers These, dass »zumindest im Hintergrund der meisten bundesrepublikanischen Beiträge zu jener Debatte […] zwei Giganten der Wissenschaft« (14) gestanden hätten, d. h. Ernst Troeltsch und Max Weber. N.s Studie geht zurück auf seine an der Universität Augsburg im Jahr 2016 eingereichte Magisterarbeit; mit knapp 150 Seiten nimmt sie fast die Hälfte des Bandes ein (23–166). Auf Grundlage einer Troeltschs Werk intensiv auswertenden Analyse wird untersucht, »inwieweit sich seine Reformationsdeutung in das Konzept der DDR-Historiographie zu einer ›Frühbürgerlichen Revolution‹ sinnvoll einordnen lässt« (121). Nießner hält ausgewogen fest, dass allen Differenzen zum Trotz deutliche »Überschneidungen« (127) und »Gemeinsamkeiten« (148) nachweisbar sind. Zugleich resümiert er, dass grundsätzlich bei Deutungen von Troeltsch auch eine »marxistische Perspektive« mit im Blick sein müsse, wobei dieser den Marxismus – wie andere Strömun-gen – durchdrungen und »losgelöst von weltanschaulichen Implikationen wissenschaftlich fruchtbar« gemacht hätte (149).

Ebenso der »Vorgeschichte« der Debatte ist der Beitrag von Sebastian Schmidmeier, inzwischen Gymnasiallehrer, gewidmet (167–192). Mit Karl Kautsky (1854–1938), der ein Gegner von Lenins Weg in die klassenlose Gesellschaft war und in Konsequenz »[v]erdammt, verkannt, vergessen« (167) wurde, nimmt er zudem einen der zentralen Gesprächspartner von Troeltsch in den Blick. Konkret stellt Schmidmeier »Überlegungen« an »zur Bedeutung des Bauernkrieges in […; Kautskys] materialistischer Geschichtsschreibung« (ebd.). Dessen Konzeption wird von Sch. – entgegen der bisherigen Forschung – mit Betonung von deren Eigenständigkeit gewürdigt. Dazu gehört auch das Ergebnis, dass nicht wenige Merkmale der frühbürgerlichen Revolution bereits bei dem österreichisch-tschechischen Historiker und Politiker »angelegt zu sein scheinen« (184), zugleich ermöglichten dessen Studien es, dieser Konzeption »eine nicht zu verachtende Erweiterung und Tiefendimension zu verleihen« (ebd.). Analoges gelte für andere aktuellere Forschungspositionen, z. B. für Peter Blickles Rede von der »Revolution des gemeinen Mannes« (184 f.).

Die dritte Studie nimmt dann den – laut Schaper – zweiten großen »Giganten« (14), der im Hintergrund der Debatten stehe, in den Blick, d. h. Max Weber. Die Verfasserin, Alida C. Euler, ist heute als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neues Testament in Heidelberg tätig. Thematisch fokussiert hat sie ihre Auseinandersetzung mit »Webers These zur protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus« auf die Zinsfrage und hier »ausgewählt[e] Positionen zentraler Reformatoren und Zeitgenossen« (192–234.192). Auf Grundlage einer konzisen und differenzierten Darstellung der Ansichten von Johannes Eck, Martin Luther, Huldrych Zwingli, Johannes Calvin und Thomas Müntzer wird zu Recht die pauschale Anwendbarkeit der Weberschen These für das 16. Jh. verneint (230).

Erst auf Grundlage dieser theoretischen Vorüberlegungen erfolgt dann die dezidierte Auseinandersetzung mit dem Konzept der frühbürgerlichen Revolution im engeren Sinn. Den Anfang macht die Studie von Tobias Dienst, promovierter Kirchenhistoriker, inzwischen Bensheimer Gymnasiallehrer. Ausgangspunkt seiner rezeptionsgeschichtlichen Studie ist das politisch-ideologisch instrumentalisierte Reformationsjubiläum des Jahres 1967 in der Deutschen Demokratischen Republik. Von hier fragt Dienst auf breiter Quellenbasis nach Niederschlägen bei Historikern und protestantischen Theologen der BRD bis in die 1980er Jahre (235–262).

Der Abschluss des Bandes gehört mit Günter Vogler einem der renommiertesten Vertreter des Konzeptes. Jedoch repristiniert der inzwischen 90-jährige, bis zur Wende in Ost-Deutschland wirkende Historiker nicht schlicht seine eigene Position, sondern betont, dass nach der Sistierung der Debatten 1989/90 weiterhin »Fragen relevant [bleiben], die einer Beantwortung harren« (263–287.263). Am Anfang stehen grundsätzlich-kritische Überlegungen zum Revolutionsbegriff, dann folgt – in sechs Schritten – eine ausgewogene Darstellung der Forschungsdebatte, immer im Duktus des Fragenden. Dies gipfelt schließlich in der nicht minder mit Bedacht formulierten »fragmentarisch[en]« (281) und vor allem neue Fragen benennenden Antwort auf die wohl zentralsten Fragen, nämlich: »Was bleibt, was bleibt offen?« (281–284.284).

Der Band folgt einer klaren inneren Dramaturgie, vice versa kann sein Ertrag nur im Gesamt angemessen gewürdigt werden. Gerade deshalb wären Sach- und Personenregister hilfreich gewesen, um übergreifende Linien einfacher nachverfolgen zu können. Mit Blick auf das unmittelbar bevorstehende Jubiläum des Bauernkrieges im Jahr 2025 wird es spannend sein zu beobachten, inwiefern die allgemein- und kirchenhistorische Forschung die vom Band – und dem Beitrag von Vogler im Besonderen – formulierten »Aufgaben« aufgreift. Gerade wegen des Abstandes zum vormaligen Streit und der veränderten politischen Situation könnte in der vom Band und seinen vornehmlich jungen Forschenden vorgezeichneten »entspannteren« Haltung breiter und ateleologisch nach dem im Titel benannten »und« sowie dem diesen eignenden potenziellen Mehrwert gefragt werden.