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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

188-190

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sommer, Michael, Poplutz, Uta, u. Christina Hoegen-Rohls [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Die Johannesapokalypse. Geschichte – Theologie – Rezeption.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. VIII, 451 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 508. Lw. EUR 154,00. ISBN 9783161612503.

Rezensent:

Walter Klaiber

Die Johannesapokalypse ist wieder im Gespräch. In manchen Kreisen, weil man angesichts sich häufender Katastrophen Bausteine für einen endzeitlichen Fahrplan sucht. In der exegetischen Forschung wohl eher, weil es sich zu lohnen scheint, sich dieser lange vernachlässigten, aber hoch interessanten Schrift wieder intensiver zu widmen. So ist es nicht verwunderlich, dass in dem anzuzeigenden Band Aufsätze aus drei verschiedenen Tagungen gesammelt sind, die 2015 in Halle, 2017 in Wuppertal und 2018 in Münster stattfanden.

Eine knappe Einleitung der Herausgebenden (1–4) erläutert die drei Bereiche, denen die einzelnen Beiträge zugeordnet sind, und charakterisiert kurz deren Inhalt (dabei sind S. 2 unten/3 oben einige Sätze durcheinandergeraten).

Der erste Teil ist mit Geschichte überschrieben und enthält Aufsätze, die sich mit den sozialen, ökonomischen und politischen Hintergründen der Offenbarung beschäftigen. Jan Dochhorn, »The last Emperor of History. A Concept of Jewish and Christian Eschatology and its History of Tradition in Antiquity« (7–27), untersucht Hintergründe und Vorgeschichte der Vorstellung vom Antichristen, wobei er zwischen der weit verbreiteten Erwartung eines letzten Herrschers, etwa in Gestalt des wiederkommenden Nero, und der jüdisch-christlichen Warnung vor dem Auftreten eines falschen Messias unterscheidet. Thomas Witulski stellt in seinem Beitrag »Rom als Handelsplatz und lokalgeschichtliche Bemerkungen zu Apk 18« (29–73) detailliert Geschichte und Funktion der beiden für Rom zuständigen Häfen Puteoli und Ostia sowie die Bedeutung der verschiedenen Berufsbezeichnungen in Apk 18 dar und kommt zu dem Schluss, dass erst seit dem Neubau des Hafens von Ostia unter Trajan die Voraussetzungen gegeben waren, Rom als Handelsmetropole zu schildern, wie das in Apk 18 geschieht. Dietrich-Alex Koch zeigt in »Die Rechtsstellung der Christen, die Präsenz des Kaiserkultes in der Provinz Asia im 1. und 2. Jh. n. Chr. und die Position der Johannesapokalypse« (75–109), dass eine rechtliche Verpflichtung zur Verehrung der römischen Götter erst seit dem Reskript Trajans (um 112 n. Chr.) belegt ist, und identifiziert den »Thron des Satans« in Pergamon mit dem Kaisertempel, der dort um 113/114 n. Chr. zur Verehrung Trajans und später Hadrians errichtet worden ist. Wie Witulski spricht er sich deshalb für eine Datierung der Offenbarung in diese Zeit aus. Diese Argumente werden weiter zu prüfen sein.

Der zweite Teil widmet sich der Theologie. Konrad Huber, »Der Gott der Apokalypse im Spiegel christologisch fokussierter Auslegungsansätze. Ein forschungsgeschichtlicher Streifzug« (113– 134), referiert sorgfältig über die verschiedene Art und Weise, die Beziehung zwischen Gott und Christus in der Offenbarung zu verstehen, und stellt fest, dass die Offenbarung trotz unterschiedlicher Konzeptionen bemüht ist, Jesus Christus »dezidiert der Seite Gottes zuzuweisen, Christus also göttlichen Status zuzuerkennen und göttliche Würde zu verleihen« (134). Tobias Nicklas, »Gott und Identität«, untersucht das Gottesbild der Johannesoffenbarung und ihre Identitätskonstruktion (135–151). Identität wird mit unterschiedlichen Begriffen beschrieben, beruht aber immer auf der gelebten Beziehung zu Gott, die zugleich Gabe und Aufgabe ist. Das scheint mir ein sehr hilfreicher Ansatz auch für die Übersetzung in eine heutige Verkündigung zu sein. Thomas Johann Bauer, »Umkehr zum ›Gott des Gesetzes‹?«, analysiert das Verhältnis der Offenbarung zur paulinischen Tradition (153–177) und findet neben grundsätzlichen Übereinstimmungen auch antipaulinische Polemik, aber keine Propagierung irgendeiner Art von Gesetzesgerechtigkeit. Martin Stowasser, »Das Schicksal der Völker in der Offenbarung des Johannes« (179–207), versucht die widersprüchlichen Aussagen über das Geschick der Völker mit Hilfe eines textpragmatischen Ansatzes zu erklären. Die Bilder von ihrer Vernichtung vergewissern einer verfolgten Gemeinde, dass Gott den Sieg behält. Doch die Aussagen über das Kommen der Völker zur himmlischen Stadt und ihre Heilung sollen zugleich die Hoffnung wecken, dass auch ihr Widerstand heilvoll überwunden werden wird, und der Kirche der Offenbarung zeigen, dass sie »eine Verantwortung und Aufgabe auch außerhalb ihrer selbst besitzt« (207). Beate Kowalski, »Ekklesiologische Konzepte und Realisierungen in den Gemeinden Kleinasiens aus der Perspektive des Propheten Johannes« (209–223), stellt zunächst Informationen über die äußere Situation der sieben Gemeinden der Sendschreiben zusammen und entfaltet dann deren theologische Aussagen. Fazit: »Kirche wird ›von unten‹ konstruiert, die ›von oben‹ erlöst wird« (222).

Bei kaum einer biblischen Schrift dürfte die Wirkungsgeschichte so spannend sein wie bei der Apokalypse. Ihr widmet sich der dritte Teil, Rezeption, mit Beiträgen zu ganz verschiedenen Gebieten, die jeweils von Fachleuten gewürdigt werden müssten. Marcus Sigismund behandelt »Die Editio Critica Major der Offenbarung als textkritische und editionswissenschaftliche Herausforderung« (227–247). Wir erfahren dabei viel über die Besonderheiten der handschriftlichen Überlieferung und weniger über den Stand der Edition. Textgeschichte ist Wirkungsgeschichte! Hochinteressant ist der Vergleich des Gottesbildes von Offb 20-22 mit dessen freier Adaption in dem Gedicht Instructiones des christlichen Dichters Commodian (Mitte 3. Jh.) durch Johannes Stettner (249–265). Die apokalyptischen Bilder des Sehers werden mit Hilfe stoischer Vorstellungen neu interpretiert, um sie so im paganen Milieu verständlich zu machen.

Sehr viel Raum ist den Illustrationen zur Apokalypse gewidmet. David Ganz stellt eine Fülle von »Buchvisionen und Schreibszenen in mittelalterlichen Apokalypsedarstellungen« vor (267–309) und zeigt damit wichtige Aspekte des damaligen Verständnisses der Offenbarung auf. Der Beitrag ist reich bebildert, leider in unzureichender Qualität (und auf S.275, 299, 302 sind Text bzw. Bildzuordnungen durcheinandergeraten). Ein breites Spektrum an Bildern zum Thema »Apokalypse und Jüngstes Gericht. Theologie im Bild. Von Dürer bis Beckmann« entfaltet Jan Rohls (311–358). Er bietet eine detaillierte Beschreibung der Bilder, wobei Michelangelos Darstellung des Weltgerichts eine Schlüsselstellung einnimmt. Das führt aber teilweise über die Motivik der Johannesoffenbarung hinaus. Sehr viel konzentrierter ist hier Heike Stöcklein, die »Die Illustrationen der Offenbarung von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis 1530« bespricht (359–378) und dabei neben Dürer vor allem auch frühe Bibeldrucke berücksichtigt und sehr erhellend deren theologische Aussageabsicht interpretiert.

Aufschlussreich ist auch der letzte Beitrag von Beate Kowalski und Michaela C. Hochstetter (379–429). Kowalski behandelt das Thema »Musik in der Offenbarung des Johannes« und analysiert dafür vor allem die Bedeutung der »Lobpreisungen« (Hymnen) und himmlischen Liturgien für das Buch und seine bedrängten Rezipienten. Hochstetter bespricht umgekehrt »Die Offenbarung des Johannes in der Musik«, und zwar am Beispiel zweier Oratorien von Franz Schmidt (Das Buch mit sieben Siegeln, 1938) und Jean Français (L’ Apocalypse selon St. Jean, 1939). Dabei sind die beiden Werke wohl nicht, wie behauptet, die ersten Vertonungen der gesamten Offenbarung (vgl. z. B. L. Spohr, Die letzten Dinge [1825/6], und dazu H. Lichtenberger, Louis Spohrs Die letzten Dinge und die Offenbarung des Johannes. In: U. Winkler [Hg.], Religion zwischen Mystik und Politik, JThF 35, 2020,137–156). Aber die Fokussierung auf die musikalische Behandlung der hymnischen Elemente in diesen beiden Werken ist instruktiv und zeigt eine klare Differenz: eher triumphalistisch bei Schmidt mit Anklängen an den Chiliasmus des Nazi-Regimes, eher leise Töne bei Français in Vorahnung der kommenden Katastrophe. So unterschiedlich lässt sich die Offenbarung interpretieren!

Insgesamt bietet der Band eine Fülle von Einblicken in geschichtliche Hintergründe, Theologie und Wirkungsgeschichte der Offenbarung. Es wäre ihm eine etwas sorgfältigere Lektorierung zu wünschen gewesen.