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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

173-176

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Weingärtner, Martina

Titel/Untertitel:

Die Impertinenz Jakobs. Eine relecture der Jakob-Esau-Erzählungen vor einer text- und metapherntheoretischen Hermeneutik Paul Ricœurs.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 346 S. = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 165. Geb. EUR 90,00. ISBN 9783525560587.

Rezensent:

Jakob Wöhrle

Die Jakoberzählung der Genesis ist in den vergangenen Jahren wieder ganz neu in den Fokus der alttestamentlichen Forschung gerückt. Insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um die Entstehung des Pentateuch sind zahlreiche Monographien, Sammelbände und Aufsätze erschienen, in denen der Entstehung, den historischen Hintergründen und der Intention der Jakoberzählung nachgegangen wird.

Die nun von Martina Weingärtner vorgelegte, an der Universität Koblenz entstandene und dort von Michaela Bauks betreute Dissertation geht bewusst andere Wege als das Gros der gegenwärtigen Forschung. W. fragt nicht, oder allenfalls am Rande, nach der Entstehung der Jakoberzählung oder nach deren ursprünglichem Aussageinteresse. Beeinflusst von der Literaturtheorie und Hermeneutik Paul Ricœurs will sie gerade unter Absehen von der ursprünglichen Situation des Werks die inhaltliche Anlage der Jakoberzählung erklären und die hier belegten Diskurse freilegen.

Zu Beginn der Studie gibt W. einen Überblick über den Aufbau und die Ergebnisse der Arbeit (15–20). Sodann bietet sie eine kurze Einführung in das Textverständnis Paul Ricœurs (21–33). Mit Ricœur versteht W. Texte als autonome Gebilde, die unabhängig von der Person des Autors, von dessen konkreter Situation oder auch von der Beziehung der Texte zu ihren ursprünglichen Lesern zu interpretieren sind. Texte sind schriftlich fixierte Diskurse, die im Rahmen der Auslegung freigelegt werden müssen. Die Textaneignung hat dabei – zum Schutz vor subjektivistischer Willkür – in einem Zweischritt von Distanzierung und Wieder-Holung des Textes zu geschehen. So ist zunächst im Rahmen einer linguistisch-strukturalistischen Analyse der äußeren Gestalt des Textes nachzugehen. Danach und darauf aufbauend ist die – insbesondere auch existentielle – Bedeutung des Textes herauszustellen. Einen solchen Zweischritt unternimmt W. in den beiden Hauptteilen ihrer Studie.

Im ersten Hauptteil »Vom Erklären…« geht W. der Abgrenzung der von ihr behandelten Teile der Jakoberzählung sowie verschiedenen inhaltlichen und semantischen Fragen nach (35–199). Nach W. ist Gen 25,29–34 – die Erzählung, wie Jakob seinem Bruder Esau für ein Linsengericht das Erstgeburtsrecht abkauft – als der eigentliche Beginn der Jakoberzählung anzusehen. Hier und in Gen 32–33 – der Erzählung von der Versöhnung zwischen Jakob und Esau – zeigt sich ihrer Ansicht nach das grundlegende Thema der Jakoberzählung, so dass sich W. in ihren weiteren Analysen und Überlegungen auf eben diese Textbereiche beschränkt.

Bedeutsam für W.s Auslegung der Linsenepisode in Gen 25,29–34 ist zunächst, dass sie die ätiologische Notiz »deshalb nannte man ihn Edom« in Gen 25,30b als sekundär ansieht. Die in dieser Notiz ja ganz eindeutig vorgebrachte Vorstellung Esaus als Ahnherr des benachbarten Volkes der Edomiter – und mit ihr die volksgeschichtlich-politische Anlage der gesamten Erzählung – ist nach W. das Produkt einer späteren Überarbeitung und so für das Verständnis der Erzählung ohne weiteren Belang. Ursprünglich war die Erzählung allein am Verhältnis und Geschick zweier Brüder orientiert.

In der Linsenepisode werden Jakob und Esau nach W. auf mehrfache Weise gegensätzlich gezeichnet. Jakob kann kochen – Esau will essen. Jakob will das Erstgeburtsrecht – Esau verachtet das Erstgeburtsrecht und gibt es auf. Die Erzählung beschreibt nach W. einen Tausch, einen kaufmännischen Handel, der »von der positiven Situation der autonomen Beziehung hin zur gebrochenen und verkehrten Situation einer heteronomen Erfahrung« führt (174).

Im zweiten Hauptteil der Studie »… zum Verstehen« geht W. der Intention und Bedeutung der Jakoberzählung nach (201–321). Die Linsenepisode schildert ihrer Ansicht nach, wie Jakob auf grundlegende Weise die Beziehung zu seinem Bruder Esau verletzt. Schon die am Beginn der Erzählung stehende Aussage, dass Jakob kocht, kann nach W. so verstanden werden, dass mit dem Kochen ganz allgemein ein Akt des Erhitzens und damit ein anmaßendes und arrogantes Handeln Jakobs im Blick ist. Jakob wird hier gleich zu Beginn der Erzählung als jemand dargestellt, der egozentrisch ist und gegenüber seinem Bruder geringschätzig und hochmütig auftritt. Genau dies bestimmt dann auch den weiteren Verlauf der Linsenepisode. Jakob verstößt gegen grundlegende Gepflogenheiten des Gastmahls. Er lädt seinen Bruder nicht zu einem gemeinschaftlichen Mahl ein, sondern verkauft ihm das Essen und zwar für das an sich unverkäufliche Gut des Erstgeburtsrechts. Nach W. zeigt sich gerade hier die Impertinenz Jakobs, der den auf Gemeinschaft hin angelegten Akt eines Essens pervertiert und familiäre Beziehungen der Ökonomie unterwirft.

Nach W. wird somit in der Linsenepisode Gen 25,29–34 auf sehr besondere Weise erzählt, wie Jakob Schuld auf sich lädt. Die Überwindung dieser Schuld wird dann in Gen 32–33, der Erzählung von der Versöhnung der beiden Brüder, geschildert. W. unterscheidet – wiederum im Anschluss an Ricœur – zwischen politischer, ökonomischer und moralischer Schuld, auf die in je unterschiedlichen Teilen von Gen 32–33 Bezug genommen wird. So beschreibt Gen 32,4–9; 33,12–17 eine politische Strategie zur Überwindung der Schuld. In diesem Textbereich wird etwa geschildert, wie sich Jakob und Esau auf verschiedene Gebiete aufteilen, und es wird so deren Willen zu friedlicher Koexistenz herausgestellt. Gen 32,14–22; 33,8–11 stellt demgegenüber eine ökonomische Strategie vor. Als Zeichen der Versöhnung nötigt Jakob seinem Bruder hier ein Geschenk auf. Gen 32, 23–32; 33,1–5 beschreibt schließlich die Überwindung moralischer Schuld. Im Gotteskampf am Jabbok begegnet Jakob zunächst dem ganz Anderen, was als Voraussetzung der gegenseitigen Anerkennung der beiden Brüder angesehen werden kann. Die Jakoberzählung ist somit nach W. eine Erzählung von Schuld und Versöhnung, bei der Versöhnung als ein Geschehen erscheint, »das hereinbricht und jede gewohnte Ordnung auf impertinente Weise umkehrt« (302).

Die von W. vorgelegte Studie, die sich insbesondere sehr kleinräumig und detailliert mit der Linsenepisode Gen 25,29–34 beschäftigt, ist zweifellos ein wichtiger Forschungsbeitrag. W. rezipiert breit die Literaturtheorie und Hermeneutik Paul Ricœurs und kommt vor diesem Hintergrund, und überhaupt mit ihrer sehr detaillierten Betrachtung der behandelten Texte, zu interessanten und wichtigen Einsichten. Bedenkenswert ist etwa die Überlegung, dass in der Linsenepisode ein Verstoß gegen die Gepflogenheiten eines Gastmahls dargestellt wird. Interessant und weiterführend sind sodann auch die Darlegungen zu den verschiedenen Formen von Schuld, deren Überwindung bei der Begegnung von Jakob und Esau in Gen 32–33 thematisiert wird.

Doch bietet die Studie auch Anlass zu Kritik. So ist zunächst zu bemerken, dass W. – gegen ihre erklärte Intention, subjektivistischer Willkür methodisch vorzubeugen – bisweilen ausgesprochen subjektive Interpretationen vorstellt. Dies gilt etwa für ihre Überlegung, dass das am Beginn der Linsenepisode erwähnte Kochen Jakobs schon etwas zu dessen Haltung gegenüber seinem Bruder Esau aussagen, ja, seine Hitzigkeit, Arroganz und Vermessenheit zum Ausdruck bringen soll. Dies ist doch eine vom Text her durch nichts gerechtfertigte Überinterpretation.

Zu kritisieren ist sodann, dass W. – obgleich sie mit der historischen Exegese oft hart ins Gericht geht – die von ihr vorgelegte Interpretation der Jakoberzählung letztlich nur auf Grundlage einer klassisch literarkritischen Operation aufbauen kann, nämlich der Ausscheidung der ätiologischen Notiz in Gen 25,30b. Nur ohne diese Notiz kann sie die Linsenepisode als Brudererzählung ohne volksgeschichtlichen Bezug und so die gesamte Jakoberzählung als Familienerzählung lesen. Dass diese Notiz – wie überhaupt die volksgeschichtliche Anlage der vorliegenden Jakoberzählung – für deren Verständnis zweitrangig wäre, ist aber keineswegs selbstverständlich. Es ist doch, wie häufig gesehen wurde, sicherlich kein Zufall, dass Esau das Linsengericht in Gen 25,30a als »das Rote (ʼādom)« bezeichnet, so dass bei der Linsenepisode nicht nur in der ätiologischen Notiz in Gen 25,30b, sondern auch in der Erzählung selbst auf Edom und die Edomiter Bezug genommen wird. Die von W. gegen den Trend der neueren Forschung vorgenommene Rückkehr von einer volksgeschichtlich-politischen zu einer familiengeschichtlichen Interpretation der Jakoberzählung wird also nicht nur ihrem eigenen methodischen Fundament, sondern wohl auch und vor allem der Jakoberzählung selbst nicht gerecht.

W. hat somit eine durchaus wichtige Studie vorgelegt, die die weitere Forschung beschäftigen und auch inspirieren wird. Anders als von ihr beabsichtigt, vermag aber auch ihre Studie nicht, die historische Forschung zu den Jakoberzählungen hinter sich zu lassen und in eine völlig neue Richtung zu drehen.