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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

120-122

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Tamcke, Martin [Hg.]

Titel/Untertitel:

Europe and the Migration of Chris-tian Communities from the Middle East.

Verlag:

Wiesbaden: Verlag Harrassowitz 2022. 236 S. mit 29 Ill., 6 Tabellen und 4 Diagrammen. = Göttinger Orientforschungen. I. Reihe: Syriaca, 65. Kart. EUR 58,00. ISBN 9783447119184.

Rezensent:

Hacik Rafi Gazer

Das Christentum ist vor zweitausend Jahren im Nahen Osten entstanden. Heute führen Christen dort nur noch ein Schattendasein. Seit Jahrzehnten wandern die Angehörigen der orientalischen Kirchen verstärkt nach Europa, Nord- und Südamerika sowie nach Australien aus. Die Christen im Orient können nur hoffen, dass die demokratischen Aufbrüche zur Entstehung von Gesellschaften führen, in denen Zugehörigkeit zum Christentum nicht vermehrt auf Hass, Hetze und Ausschluss stößt.

Gegenwärtig gibt es aber zahlreiche Indikatoren, die befürchten lassen, dass dem Christentum in dieser Region zukünftig bestenfalls noch in musealer Form begegnet werden kann. Für die Länder des Nahen Ostens könnte dies wiederum bedeuten, dass in ihren Gesellschaften weiterhin einseitig radikale, nicht demokratische Regierungsformen die Oberhand gewinnen. Martin Tamcke befasst sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte und Gegenwart der orientalischen Christen. Im vorliegenden Sammelband hat er die Beiträge der Arbeitstagung »Religious fragmentation as factor of conflict, 23.–24. April 2019« und der Konferenz »Europe and the migration of the Christian communities from the Middle East, 27.–29. September 2021« zusammengetragen, die zugleich auch seine Verabschiedung an der Georg-August-Universität zu Göttingen war. In den beiden Veranstaltungen wurden u. a. folgende Themen behandelt: die rechtliche Stellung der religiösen Minderheiten im Islam, die Migration der orientalischen Christen, ihre Beweggründe und ihre Versuche, sich in den für sie neuen Gesellschaften der Zielländer zu integrieren.

In seinem Beitrag »The Religious Fragmentation Migrates« (11–14) gibt der Herausgeber einen ersten kurzen Überblick über die Migrationsgeschichte der Angehörigen der orientalischen Kirchen der Armenier, Aramäer, Assyrer, Chaldäer, Griechen im 20. Jh. Heleen Murre-van den Berg schildert in ihrem Beitrag »Rewriting Global Orthodoxy. Oriental Christians in Europe between 1970 and 2020« (15–29). Die orientalischen Christen, die nach Europa auswandern, haben selbst einen transnationalen Hintergrund, der bei der Betrachtung der künftigen Darstellung dieser Migrationskirchen zu berücksichtigen ist. Unter diesem Aspekt sollte die Geschichte der orientalischen Christen als ein Teil der globalen Geschichte des Christentums neu geschrieben werden, betont die Autorin.

Lars Klein befasst sich mit dem Thema der Migranten aus Syrien: »No Place for ›Arabs and Turks‹? German public discourse about the conflict in and migration from Syria, 2015–2019« (31–40). Ausgehend von der Thilo-Sarrazin-Debatte untersucht er anhand einer Medienanalyse (Die Welt, Der Tagespiegel, Die Tageszeitung) zu Flucht und Migration die öffentliche Debatte über die Migranten aus Syrien. Migranten stehen von jeher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rechtsextremer Bewegungen in Europa. Zwei Verfasser, Liubov Fadeeva und Ekaterina Burmistrova, liefern einen Beitrag zum Thema »Migration and Radical Right Movements in Europe« (41–48). Daran schließt sich der Beitrag von Ertuğrul Şahin »Minoritäten im Islam« (49–58) an. Nach ihm ist die Minderheitenproblematik kein Alleinstellungsmerkmal der muslimischen Länder. Sie ist auch nicht einzig und allein eine Problematik religiöser Gruppen. Sie ist nicht nur ein religiöses oder juristisches Phä- nomen. Sie hat nach Şahin eine soziopsychologische Dimension, die durch ein multikausales Faktorenbündel wie destruktive Geschichtsschreibung, Nationalismen, Fremdenhass, Existenzangst strukturell verursacht sein kann. Seine Schlussfolgerung lautet, dass eine Erneuerung bzw. Reformnotwendigkeit des islamischen Rechts notwendig ist.

Kai Mertens Beitrag »New Home Europe. Memories of the arrival of the first Syrian Orthodox Christians in Germany« (59–65) ist eine Zusammenfassung eines 1997 veröffentlichten Beitrages über »Die syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei und Deutschland. Untersuchungen zu einer Wanderungsbewegung«. Hier schildert Mertens die Lage der aus der Tur Abdin nach Deutschland eingewanderten Aramäischen Christen. Jan Gehm stellt in seinem Beitrag »Microhistory of a Syriac Orthodox Community in Germany. The example of the Syriac Orthodox congregation in Herne from 1961 to 2021« (67–78) die Geschichte der Syrisch-orthodoxen Kirchengemeinde in Herne dar. Die beiden folgenden Beiträge von Matija Miličić »The Coptic Orthodox Church in the Netherlands. Shedding light on overlooked European Coptic diasporas« (79–90) und Gaétan du Roy »Coptic Traditions’ Digitization in Francophone Europe« (91–97) schildern die Geschichte der koptisch-orthodoxen Kirchengemeinden in den Niederlanden, Belgien und Frankreich. Harutyun G. Harutyunyan bietet in seinem Beitrag »Migration and Integration of Armenian-Orthodox Christians in the Historical and Modern Diaspora« (99–109) einen Überblick über die Geschichte der Armenischen Christen in der »alten« und »neuen« Diaspora. Christopher Sheklian stellt in »Their Compatriot St. Servatius. Armenian emplacement in Maastricht« (111–124) die Geschichte der Armenier in den Niederlanden dar. Der Stadtpatron der Stadt Maastricht, der Hl. Servatius, und die armenische Kirchengemeinde Surp Karapet stehen hier im Mittelpunkt. Sevgi Çilingir thematisiert in ihrem sehr fundierten Beitrag »The Issue of Historical Christian Minorities in EU-Turkey Relations. The case of Armenians« (125–138) die Lage der armenischen Minderheit in der Türkei. Martin Tamcke stellt in seinem Beitrag »Minority, Cosmopolitan, Migrant, Stateless Person? Petros Markaris’s attempt at explaining his own identity« (139–143) einige Auszüge aus dem facettenreichen Leben des Petros Markaris (Markarian) dar. Der als Krimiautor bekannte Markaris, dessen Vater ein Armenier war und die Mutter eine Griechin, wurde in Istanbul geboren, lebte und schrieb in verschiedenen Ländern wie der Türkei, Österreich, Deutschland und Griechenland. Habtom Yohannes informiert über eine WhatsApp-Gruppe (»abä-nefs)«, die von den Angehörigen der äthiopischen und eritreischen orthodoxen Kirchenangehörigen der Tewahdo-Kirche in der Diaspora benutzt wird: »Some reflections on the »abä-nefs« WhatsApp of an Eritrean Priest Queshi-Afwerki« (145–160). Dieser Beitrag ist sehr informativ und gewährt einen Einblick in das Kirchenleben der äthiopischen und eritreischen Christen. Zum kirchlichen Leben der »Thomaschristen« in Europa liefert Baby Varghese einen kurzen informativen Beitrag: »Europe and Migration of Christian Communities from India« (161–165).

Vier Autoren (Leonard Stinsky, Hanna Holthuis, Paul Seebaß und Leonie Wingberg) beleuchten im Beitrag »Flight, Eviction and Hostage Holding of Assyrian Christians from the Valley Goran. A personal report by Abdo Mirza« (167–172) mit jeweils kurzen Kommentaren den Bericht von Abdo Mirza, der seine Flucht aus dem Tal Goran unter dem Titel »Barfuß sind wir an den Chabour gekommen, barfuß sind wir gezwungen wieder zu gehen« geschildert hatte. Sinem Abka beschreibt das Schicksal der aus Kleinasien vertriebenen griechisch-orthodoxen Christen und deren Integration in Griechenland nach dem Ersten Weltkrieg in »The Integration Trajectory of Orthodox Greek Refugees in Mainland Greece« (173–182). Natalia Zhurbina beschäftigt sich unter der Überschrift »The Integration Policy of Russia towards the Migrants’ Children: Challenges and Prospects. An example of migrants from Tajikistan, Uzbekistan and Armenia« (183–194) mit der Integrationspolitik der Russischen Föderation. Im Mittelpunkt stehen die Kinder der verschiedenen Einwanderer aus Tadschikistan, Usbekistan und Armenien. Sevgi Çilingir thematisiert in ihrem Beitrag »Challenges of Religious Conversion in an Asylum Setting. Conversion to Christianity during the European migration crisis« (195–208) Konversion im Asylverfahren.

In einem Anhang finden sich Beiträge des Festaktes zur Verabschiedung von Martin Tamcke. Sinem Abka schildert in seinem Beitrag »The EU’s Impact on the Changing Status of Greek Minorities in Turkey« (211–220) die Probleme der nichtmuslimischen Minderheiten und insbesondere die der Griechen in der Türkei. Hermann Teule thematisiert in »Der Stellenwert des Studiums des östlichen Christentums« (221–223) »unerwartete neue und ursprüngliche Ausdrucksformen des Christentums« (223). Mit den Grußworten von Bischof Armash Nalbandian (dem Bischof der Armenisch-Apostolischen Diözese in Damaskus, 225), von Rade Kisić (dem Systematischen Theologen an der Orthodoxen Theo-logischen Fakultät der Universität Belgrad, 226), Alla Alkushina aus Voronezh (227) sowie Abschieds- und Schlussworten von Martin Tamcke (229–236) wird der Band abgeschlossen. Er ist insgesamt sehr informativ und gewährt einen guten Einblick in die facettenreichen Forschungsthemen Martin Tamckes.