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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

118-120

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Pieper, Lukas

Titel/Untertitel:

Paulos Mar Gregorios. Imaginationen des Ostens im Zeitalter der Ökumene.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 285 S., mit 8 Abb. = Kirche – Konfession – Religion, 81. Geb. EUR 45,00. ISBN 9783847112914.

Rezensent:

Matthias Binder

Welch gute Idee von Lukas Pieper, dieses Buch zu schreiben. Der darin behandelte Kirchenmann Paulus Mar Gregorios (1922–96), zugleich auch Theologe und Ökumeniker, hat Stellvertreterfunktion in mehrfacher Hinsicht. Er vertritt eine Epoche ökumenischer Arbeit des Weltkirchenrats (ÖRK, hier 1962–91, zuletzt als einer der Präsidenten) und auch der im Westen umstrittenen Christlichen Friedenskonferenz (CFK, hier 1970–90). Und er vertritt eine Epoche orientalisch-orthodoxer Kirchengeschichte, zumal der indischen Kirchen syrisch-orthodoxer Tradition (1967 Direktor des Theologischen Seminars Kottayam; 1976 Gründung des Orthodoxen Zentrums Delhi; 1975 Metropolit von Delhi des soeben als autokephal konstituierten Teils dieser Kirche), aber auch der äthiopisch-orthodoxen Kirche (1947–1959; 1956–1959 Funktionen im äthiopischen Schulwesen im Dienst Kaiser Haile Selassies). Ferner vertritt er, vielleicht überraschend, eine Epoche byzantinisch-orthodoxen Theologisierens aufgrund seines Kontakts mit Vertretern wie George Florovsky, John Meyendorff, Ioannis Zizioulas u. a. Mar Gregorios engagierte sich bei den Dialogen der byzantinischen mit der orientalischen Orthodoxie und vertritt nicht zuletzt eine Epoche indischer Geschichte. Er war bestimmt von den Diskursen um die Unabhängigkeit seines Heimatlands (1947), um die Auswirkungen des westlichen Kolonialismus und die marxistische Theorie. Er suchte Anschluss an indische Philosophie und Dialog mit den Religionen Indiens, insbesondere dem Buddhismus (1968 Vizepräsident auf dem Kerala Philosophical Congress; 1974 Indian Philosophical Congress; 1993 Parliament of World’s Religions). Wer also dieses Buch mit seiner derart stellvertreterhaften Biographie liest, wird zwangsläufig – auf Basis guter Recherche – in ein Stück globaler Kirchen- und Theologiegeschichte eingeführt. Folgerichtig ist das Werk, eine Göttinger Dissertation von 2019/20, dort am damals so genannten Lehrstuhl für »Ökumenische Theologie und Orientalische Kirchen- und Missionsgeschichte« entstanden.

Liegt es an der Biographie mit Stichwörtern wie CFK, Marxismus und interreligiöser Dialog, dass P. den Kirchenmann (der keineswegs Marxist ist), »unbequem« nennt (25)? Oder liegt das an den Erfahrungen derer, die ihn kannten (15)? Oder an seiner mitunter grobgeschnitzt antiwestlich und antiaugustinisch anmutenden Haltung, wie es im Buch immer wieder aufscheint? Der Rezensent wurde bei dieser Aussage neugierig, an welchen Stellen P. für sich selbst die Unbequemlichkeit festmachen wird. Aber er wurde bei seiner anregenden Lektüre bis zur letzten Seite hin eines anderen belehrt: die Schilderungen bleiben durchweg so sachlich, lesbar und freundlich gesonnen, dass die vielschichtigen theologischen Anliegen und Beiträge des Paulos Mar Gregorios klug, prophetisch und rezipierenswert, aber keineswegs sehr sperrig erscheinen. Das schließt nicht aus, dass P. hier und da auf Widersprüchlichkeiten hinweisen muss in einem literarischen Werk (mindestens 659 Titel, davon 34 Bücher), welches sich immerhin über einige Jahrzehnte hinweg- und durch unterschiedliche Kontexte hindurchzieht (ein Rahmen also, in dem ohnehin niemand volle Kohärenz erwarten würde).

Eine Widersprüchlichkeit findet P. darin, dass Mar Gregorios in seinen Absetzungsbewegungen vom »Westen« tatsächlich selbst mit westlichen Denk-Mitteln arbeitet bzw. auch westlich geprägt ist, nicht verwunderlich angesichts der US-amerikanischen, englischen und deutschen Ausbildungsorte des Paulos Verghese – so sein bürgerlicher Name. Diesen Aspekt der Person von Mar Gregorios hervorzuheben, gehört zum Beitrag P.s. Er belegt damit, und ferner mit Mar Gregorios’ indischer sowie indisch-orthodoxer Selbstidentifikation, die vielschichtige Verortbarkeit des Kirchenmanns. Dies tut P. in Abgrenzung von der anderen vorliegenden Dissertation zum Thema, die von Marina True stammt (Prophet of a new Humanity etc., Diss. Berkeley 2009) und sich auf die »orthodoxe« Identitätskonstruktion Mar Gregorios’ festlegt – welche P. natürlich auch hervorhebt. Seine Quellenarbeit setzt viel Fleiß voraus; Mar Gregorios’ autobiographisches Fragment wird mit Aussagen von Zeitgenossen, Briefauszügen, Aufsätzen und vor allem seinen monografischen Hauptwerken abwägend verglichen. Dass ein westlicher Forscher sich einen Theologen zum Gegenstand wählt, der sich westlicher Vormachtstellung zu entwinden sucht – so der Eindruck in diesem Buch –, ist ein delikates Unternehmen. P. ist sich laut Selbstaussage dieser (post-)kolonialen Problematik bewusst (22–25). Dass er nun selbst ein Bild zeichnet von Mar Gregorios’ Selbst-Bildern (»Imaginationen«), ist gewiss unumgänglich, einschließlich einer fairen Kritik, wenn es denn je zu einer Begegnung auf Augenhöhe kommen soll. Dass sich die beschriebene Person dann missverstanden oder bevormundet sehen könnte, gehört zum notwendigen und nicht mehr nachprüfbaren Risiko.

Der biographischen ersten Hälfte des Buchs – die keineswegs nur Lebensdaten abhakt, sondern eine innere Entwicklung Mar Gregorios’ kontextuell verortet – folgt in der zweiten Hälfte eine Systematisierung seines Denkens, die aber ebenso vorbildlich kontextualisiert bleibt. Eine durchgehende Referenz für seine Arbeit ist im Werk Gregors von Nyssa zu finden, dem Gegenstand seiner eigenen Dissertation. Dieser altkirchliche Grieche kann natürlich, da von allen Kirchenfamilien prinzipiell anerkannt, als integrative Figur im theologischen Dialog dienen; und er dient außerdem dem indischen Kirchenmann als Mittel der Inkulturation eines indischen Christentums. Die Rezeption syrisch-orthodoxer Theologien scheint dagegen zu fehlen. Aus Gregor schöpft Mar Gregorios Erkenntnisse zur Freiheit des Menschen und zum menschlichen Ziel der Vergöttlichung (Theosis) als einem »unendlichen« Prozess.

Andere »orthodox« inspirierte Gedanken gelten dem Gottesdienst (der göttlichen Liturgie): dieser lässt die Teilhabenden sich zu Gott hin transzendieren, aber gleichzeitig in die Welt hinein. Der Mensch kann hier mit Gott zum Schöpfer werden. Optimismus herrscht hier im Blick auf eine verantwortungsvolle Mitgestaltung der Welt mit Hilfe von Technik. – Unter dem Titel der »Orthodoxie« verbirgt sich etwa die Säkularismusdebatte der ÖRK-Dialoge, oder die Vision eines christlichen Aschrams (182), in dem asketisches Leben neu zu kreieren sei – durch Imagination (das Wort als Zitat nur 158). Ungefähr hier liegt der Kontext dieses Stichworts von Mar Gregorios, welches dann bis in den Untertitel des rezensierten Buchs wandert. Dabei ist es wohl nur P., der im Titel und im Buch (zutreffend) beobachtet, wie Mar Gregorios den »Osten (und Westen)« imaginiert, ferner dann das »Indisch-orthodoxe«, teilweise mit kirchenpolitischen Absichten.

Würde aber Mar Gregorios auch bei solchen Abgrenzungs-Konstruktionen von Imaginationen sprechen? Denn in jedem Fall erscheint seine Theologie nicht starr, sondern vermittlungsfähig, gerade bei seiner Rede von Tradition. Protestantische, katholische und orthodoxe Positionen zurücklassend, findet er zu einem Traditionsbegriff, der frei ist für Gestaltung (143) und Korrigierbarkeit (154) – und somit Ökumene aus verschiedenen Traditionen heraus ermöglicht.