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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

110-113

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Koeniger, Kolja

Titel/Untertitel:

Gütersphären kirchlicher Leitung. Eine ethische und praktisch-theologische Untersuchung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 312 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 86. Geb. EUR 48,00. ISBN 9783374070657.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Kirchenreformprozesse und Erneuerungsprogramme, die mit den Pathosformeln kirchlichen Marketings gespickt sind, erleben in der Gegenwart ihre besondere Konjunktur. Und dem folgen die entsprechenden analytischen Arbeiten praktischer Theologie. Doch es bleibt oft beim oberflächlichen Vergleichen und Evaluieren. Die hier zu rezensierende Arbeit wagt einen erfrischend anderen Blick, der zwischen praktischer Theologie und Ethik changiert und die Analyse auf die Ebene des Grundsätzlichen hebt. Kolja Koeniger wurde mit dieser praktisch-theologischen Dissertation im Jahr 2020 unter Anleitung von Michael Herbst an der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald promoviert.

Zunächst stellt er die simpel erscheinende Grundfrage: »Was soll Kirchenleitung leisten?« (17) Und er verweist auf die »Grundlinien einer Theorie güterethisch verantworteten Leitungshandelns« (ebd.), die er entwickeln will. Das geschieht in drei Teilen. Auf eine Problemskizze (23 ff.) folgt der Hauptteil, eine Theorie kirchlichen Leitungshandelns (45 ff.), deren Leistungskraft er im letzten Teil in zwei Fallstudien (244 ff.) zu bewähren sucht. Im Anschluss an P. M. Zulehner spricht er für diese Anordnung von einem Dreischritt: Kairologie analysiert die gegenwärtige Situation; Kriteriologie entwickelt Inhalte, Normen und Methoden der Praxis; Praxeologie gibt schließlich konkrete Anregungen für kirchliches Handeln (21).

Theologie betrachtet der Vf. als positive Wissenschaft und als Funktion der Kirche (20), Kirchenleitung sieht er als Beeinflussungsprozess (28), der in evangelischen Landeskirchen durchweg pluralistisch gestaltet ist. Trotzdem lässt er sich auf zwei Hauptperspektiven herunterbrechen: Die eine zielt nach innen, auf die Gesamtkirche, die andere auf den Kontext, die Umwelt der Kirche, sei sie politisch, sozial oder anders gestaltet (34 f.).

Die Rede von den Krisen der Kirchen ist dabei dem Verdacht ausgesetzt, die falschen Probleme zu identifizieren. Wer kirchlich leiten will, muss darum wissen, welche Ziele er verfolgt, welche ideale Kirche er im Blick hat. Der Vf. entscheidet sich für einen handlungstheoretischen Begriff von Leiten, um eine Vielzahl konkurrierender Verständnisse in seine Gütertheorie einzuordnen. Leiten hat für ihn eine anthropologische, eine rationale und eine soziale Dimension. Positiv bedeutet das ein Festhalten an der Intentionalität von Handeln (48–51); negativ bedeutet es eine Absetzbewegung von der Luhmannschen Systemtheorie (52 ff.), die sich nicht mehr am Subjekt orientiert. Leitung ist mit der Ausübung von Macht verbunden, deswegen ist über die Legitimität kirchlichen Handelns nachzudenken (61 ff.).

Dem Handlungs- und Leitungsbegriff liegt ein bestimmtes Kirchenmodell zugrunde. Der Vf. entscheidet sich nach der Diskussion unterschiedlicher Theorieangebote (Preul u. a.) für ein Hybridmodell, das Kirche zugleich als Institution, Organisation und Gruppe (71) versteht. Das wird theologisch erweitert durch den Begriff der Kirche als Zeugin (H. Theißen) für das Wort oder die Gegenwart Gottes (73). In dieser Hinsicht ist kirchliches Leitungshandeln nicht beliebig, sondern eingebettet in eine Kirchentheorie, die wiederum bestimmt ist von einer theologischen Verweisstruktur: Sie dient einem Zweck, den »sie sich selbst nicht geben kann: Als berufener Dienst zur Mitwirkung an der Erfüllung des Auftrags der Kirche.« (89)

In der Folge diskutiert der Vf. unterschiedliche Modelle kirchlichen Leitungshandelns (Kybernetik, Management etc.) und kommt zu dem Ergebnis, kirchliches Leitungshandeln sei erstens ein Handeln im eigentlichen Sinn, es sei gebunden an theologische Grundentscheidungen, und es berücksichtige die verschiedenen Erscheinungsweisen von Kirchen (132). Diese Grunddefinition wird präzisiert durch die Unterscheidung in direktives, kommunikatives, disponierendes und konditionierendes Handeln (139). Damit kommt er zu folgender Definition: »›Kirchliches Leitungshandeln‹ ist der Inbegriff desjenigen Dienstes in der verfassten Kirche, durch den berufene Leitungsorgane und -personen nach Maßgabe des kirchlichen Auftrags in optimierender Absicht auf die Sozialgestalt sowie die Umweltbedingungen der Kirche Einfluss nehmen.« (145) Diese Definition, so der Vf., sei idealtypisch zu verstehen.

In der Folge entwickelt der Vf. kirchliche Leitung als güterethische Handlungs- und Prüflehre (149 ff.). Im Anschluss an Schleiermacher und seine Unterscheidung zwischen wirkendem und darstellendem Handeln sowie im Anschluss an die Kirchentheorien von Eilert Herms und Reiner Preul arbeitet er sich güterethisch an den Zielen, Folgen und Nebenfolgen ab, die kirchenleitende Personen durch ihr Leitungshandeln zu gewärtigen haben. Unterschiedliche Ziele müssen gegeneinander abgewogen, Zielkonflikte müssen geklärt, Entscheidungen an Zielen überprüft und im Notfall korrigiert werden.

Handlungs- und Gütertheorie sind nun in der Auslegung des Vf.s unmittelbar aufeinander bezogen. Im Anschluss an Michael Moxter und Michael Walzer spricht er von Gütersphären. Kirche ist nicht nur einem, sondern mehreren, aufeinander bezogenen Gütern verpflichtet. Im Anschluss an seine Handlungstheorie bestimmt er nun vier kirchliche »Hauptgüter«: die Vitalität christlichen Glaubens (197–207), die Dienstgemeinschaft der Mitarbeitenden (207–216), den Diskurs als Beitrag zu gesellschaftlichen Problemlösungen (216–226) sowie die Ordnung der Rahmenbedingungen kirchlichen Handelns (226–238). Dieses Viererschema wird dem Viererschema des Handelns zugeordnet bzw. aus diesem entwickelt. Kirchenleitendes Handeln besteht nun für den Vf. darin, diese vier Güter in ein Verhältnis zu bringen: »In der Unschärfe der Gütersphären liegt schließlich die präzise Aufgabe kirchlichen Leitungshandelns angelegt, oder besser: das Metakriterium, nach dem sich seine Leistung bemisst. Die Leitung der verfassten Kirche erweist sich als güterethisch verantwortet, wenn sie überprüfbare Kriterien und verlässliche Verfahren ausbildet, um ihre eigene Güte relativ zu den angestrebten Gütern zu prüfen und entsprechend weiterzuentwickeln.« (240)

Dieses will der Vf. an zwei Fallstudien belegen und überprüfen. In der ersten Fallstudie untersucht er das Modell der Erprobungsräume der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und versucht, dieses Modell theoriegeleitet zu rekonstruieren (254). Dabei fallen die Metaphern auf, die der Vf. zur Beschreibung der Anwendung seiner Theorie verwendet: »Gemeindliche Aufbrüche und Experimente sind keine laut bellenden Hunde, die die Nachbarn vergrätzen, sondern sie bedürfen als Welpen der sorgfältigen Pflege ihrer (Dienst-)Herren.« (260) Ob solche paternalistischen Bilder den Anspruch der Kommunikativität erfüllen, mag dahingestellt sein. Das zweite Beispiel dient dem Zweck, die Anwendbarkeit des Kirchenleitungsmodells auf der Gemeindeebene zu demonstrieren. Der Vf. schildert den Abriss und den Neubau einer Kirche (263 ff.). Allerdings ist dieses Beispiel fiktiv, also konstruiert (268).

Ein kurzes Fazit schließt die Überlegungen zu Kirchentheorie und Leitungshandeln ab (283–285). Der Vf. bescheinigt seinem Modell, es helfe, die güterethische Reflexion der Kirchentheorie zu systematisieren. Und er verspricht für seine Theorie »einen praktischen Mehrwert für die Wahrnehmung von Leitungsprozessen« (284).

Es ist ein sehr großes Verdienst des Vf.s, dass er die Debattenaufmerksamkeit in den Überschneidungsbereich zwischen Ethik und Praktischer Theologie gerichtet hat. Und er arbeitet sehr genau heraus, dass die Kirchen eben nicht wie ein Konzern oder ein großes Unternehmen geleitet werden können, sondern an theologische Bedingungen gebunden sind, die er kirchentheoretisch als Voraussetzungen einlöst. Theologie – das ist ein zweites Verdienst – wird auch nicht als eine Art unverdienter Überschuss eingeführt, auf den man betend und singend zu warten hat, während das Leitungshandeln sich ausschließlich rationalem Kalkül verdankt. Solche dichotomischen Auffassungen kirchentheoretisch sehr elegant zu überwinden, ist ein Verdienst, das sich der Vf. zu Recht zuschreiben kann. Und seine Theorie erweist sich als in sich schlüssig und konsistent. Sie löst vor allem die Aufgabe der Vermittlung zwischen Dogmatik, Kirchentheorie und Güterethik ein, die er sich für sein eigenes Projekt gestellt hat.

Drei Fragen seien am Ende formuliert. Sie sind nicht als Kritik an seiner sehr konsistenten und bemerkenswerten Arbeit gedacht, vielmehr sind sie als Anregungen aus der Lektüre der Arbeit hervorgegangen.

1. Auch der Vf. muss einräumen, dass die Güterethik selbstverständlich nicht unterschiedliche Verhältnisbestimmungen zwischen den Gütersphären ausschließt, zumal diese jeweils ausdeutbar sind, selbst wenn man sich auf das Viererschema des Vf.s einlässt. Man könnte denken, dass der Streit, der auf der kirchlich-praktischen Ebene teilweise erbittert ausgetragen wird, sich nur auf die Theorieebene verlagert. Was aber wäre dann der Mehrwert von Kirchentheorie und Güterabwägung? 2. Der Handlungsbegriff bliebe reduziert, wenn er auf das rational Erreichbare konzentriert würde. Stattdessen ist stets mit Momenten des Kontingenten und Unwägbarkeiten sowie unbeabsichtigten Nebenfolgen zu rechnen, die das intentionale Handlungskalkül sei es eines kirchenleitenden Gremiums oder einer kirchenleitenden Person im Planungsstadium noch nicht berücksichtigen kann. Wie könnten solche Unwägbarkeiten, die oft wichtiger (und unangenehmer) sind als die Zielbestimmungen, in die Theorie des Verfassers eingebaut werden? 3. Die vom Vf. hervorgehoben güterethischen Leitbegriffe bleiben im Grunde doch sehr vieldeutig. Das gilt zum einen für den Begriff der Vitalität, der ja als Gegenbegriff zur aktuell verbreiteten Resignation sinnvoll ist, dem aber ansonsten die entsprechenden (theologischen) Konturen zu fehlen scheinen. Das gilt zum anderen für den Begriff der Dienstgemeinschaft und das damit verbundene Kirchenrecht. Nicht nur ist dieser Begriff vieldeutig, er wird auch missbraucht, um willkürliche Machtentscheidungen von Kirchenentscheidungen zu legitimieren. Der gewaltige Anspruch, das ›Recht der Gnade‹ (z. B. Dombois) zu praktizieren und im Ernstfall dann doch einfach staatliches Verwaltungsrecht zu übernehmen, darf nicht mit solchen idealisierenden Termini überspielt werden. Insofern wäre zu fragen, inwiefern hier nicht die Praxis die beste Theorie delegitimiert oder mindestens dem Verdacht des Schönschreibens aussetzt.