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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

108-110

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klessmann, Michael

Titel/Untertitel:

Verschwiegene Macht. Figurationen von Macht und Ohnmacht in der Kirche.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023. 280 S. EUR 35,00. Kart. ISBN 9783525600153.

Rezensent:

Gregor Maria Hoff

Fragen nach Macht und Ohnmacht in der Kirche stellen sich gegenwärtig unter verschiedenen Vorzeichen. Kirchenstatistisch verlieren die Großkirchen in westlichen Gesellschaften, namentlich in Deutschland, massiv an Mitgliedern und religionskulturellen Einflussmöglichkeiten, während sie gleichzeitig finanziell und politisch-repräsentativ noch vergleichsweise gut aufgestellt erscheinen. In Ethikkommissionen sind sie vertreten, Parteien und Politiker lassen kirchliche Bezüge weiterhin erkennen, bestehende Konkordate werden nicht in Frage gestellt. Dennoch weisen religionssoziologische Studien einen rapiden Bedeutungsverlust im religiösen Kernbereich aus: im dezidierten Glauben an den Gott Jesu Christi und eine kirchengebundene Praxis. Hier zeichnen sich gegenläufige Konstellationen von Macht und Ohnmacht in den Kirchen ab, die sich wiederum an die theologischen Deutungen dieser Konfigurationen vermitteln. Besonders bedrängend, ja ein- schneidend erweist sich der Missbrauch von Macht, wie er im Raum der katholischen Kirche weltweit im Zeichen sexualisierter Gewalt, aber auch geistlichen und pastoralen Machtmissbrauchs in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sichtbar wurde.

Was aber bedeutet Macht und Ohnmacht in der prekären Kopplung beider Aktions- und Erfahrungspole theologisch und für die Kirche(n)? Zurecht spricht Michael Klessmann in diesem Zusammenhang mit dem Titel seiner Studie von einer »verschwiegene(n) Macht«: »Das Phänomen der Macht wird in Kirche und Theologie wie ein Stiefkind, wie in früheren Zeiten ein uneheliches Kind behandelt: Übersehen, vernachlässigt, schamhaft verschwiegen. Dabei stellt es ein zentrales Lebensphänomen dar, das zwischen Menschen, in Gruppen, Institutionen und Organisationen omnipräsent ist, natürlich auch in Religionen und Kirchen.« (9) Wer sich aber um eine präzise Wahrnehmung von systemischen Machtprozessen drückt, verliert sowohl ihre Produktivkraft wie ihre Risiken aus dem Blick. Beides aber gehört zusammen, und so arbeitet K. in den neun Kapiteln seines Buches immer wieder jene »Ambivalenzen der Macht« (13) aus, mit denen er seine Untersuchung einleitet. Diese Regie erweist sich als analytisch griffig und theoretisch, nicht zuletzt auch theologisch überzeugend.

Den Boden bereitet K. mit einem machttheoretischen Überblick (Kap. 1). Er setzt mit soziologischen Begriffsbestimmungen und Theorievorschlägen ein, für die er zunächst Max Webers klassische Definition von Macht aufruft, wonach er sie als »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleich worauf diese Chance beruht« (21) ausmacht. Er erweitert dieses Machtkonzept um Hannah Arendts »kommunikatives« bzw. »kooperatives« (24) Verständnis, das für die Kirchen besonders anschlussfähig erscheint – im Modus geteilter, transparenter Macht. Diese Perspektive zieht sich als normative Orientierung durch die Überlegungen K.s, um so auch der Foucault’schen Machthermeneutik Raum zu geben. Die Pastoralmacht der Kirchen hat sich historisch als disziplinierend und individualisierend erwiesen, diese bestimmende Einflussmacht aber unter Bedingungen pluraler, sich säkularisierender Gesellschaften zunehmend verloren. Macht in der Kirche lässt sich damit neu und anders aufsetzen. Dafür aber müssen sich die Kirchen systemtheoretisch darauf einstellen, dass Macht als »Kommunikationsmedium« (29) unausweichlich und grundlegend für alle Beziehungen erscheint. Sie verkommt nur dann nicht zu bloßem Herrschaftszwang, wo sie immer neue Anschlussmöglichkeiten kirchlich, religiös, pastoral ermöglicht. Nur so kann Macht in offenen, pluralisierten Digitalgesellschaften derart gestaltet werden, dass sie auch theologisch dem Anspruch des Evangeliums entspricht. Denn mit der Reich Gottes-Botschaft Jesu tritt eine Macht sui generis auf: die unbegrenzte schöpferische Lebensmacht Gottes als Anfang von und in allem.

Doch auch diese theologische Grundannahme erweist sich machttheoretisch als hoch ambivalent. K. geht ihr im zweiten Kapitel mit Konstellationen der »Macht und Ohnmacht des Heiligen« (49) nach, indem er verschiedene Machtmuster in Tradition und Theologie bis hin zur Bestimmung der Allmacht Gottes behandelt. Kreuzestheologisch ist sie immer zugleich an die Ohnmacht zu binden: Der Tod Jesu depotenziert einseitig machtbesetzte Projektionen eines machtvoll eingriffsbereiten Gottes und hält dazu an, die Macht Gottes vor allem als Beziehungsmacht zu begreifen, die noch im Tod über ihn hinaus schöpferische Beziehungen zu setzen vermag. Das geschieht wiederum im Glauben, der seinerseits eine prekäre Konstellation von Macht und Ohnmacht darstellt, weil er sich nicht herstellen lässt. Der rezensierende Fundamentaltheologe hätte sich gerade zu diesem epistemisch grundlegenden Aspekt theologischer Machtreflexion ein eigenes Kapitel vorstellen können.

Umso wichtiger erscheint die Bedeutung der Kirche, die als kommunikativer Grund vergemeinschafteten Glaubens eigene Machtdispositionen schafft. K. nimmt sie unter institutions- und organisationstheoretischen Vorzeichen in den Blick (3. Kap.), um sie im folgenden Kapitel mit einem entscheidenden Gesichtspunkt zu fokussieren: der Rolle des Amtes in der Kirche. Hier zeigt sich eine besondere Stärke der Untersuchung. Als evangelischer Theologe bezieht sich K. immer wieder auf andere kirchliche Traditionen, wobei er nicht zuletzt auf Theologie und Praxis der katholischen Kirche abhebt. Entsprechend erweist sich das mitlaufende Motiv des Machtmissbrauchs als hoch aufschlussreich. Man darf mit K. diese Folie nicht aus den Augen verlieren. Das gilt zumal für die treffsicheren Analysen konkreter Machtentfaltungen im kirchlichen Amt. Hier ließe sich ein spezifischer Unterschied zwischen evangelischer und katholischer Theologie im Zeichen der Sakralisierung des Amtes noch weiter entfalten. Sie steht für das Heilige, beansprucht es aber zugleich repräsentationslogisch – was Amt und Person mit Macht auflädt.

Macht wird in allen Kirchen unter dem Vorzeichen des Dienens aufgefasst, was nicht selten eine ideologische Überhöhung und zugleich das Tünchen realer Machtverhältnisse mit sich bringt. K. legt hier die theologische Ambivalenz des Amtes eindringlich frei (Kap. 5) – ausdrücklich mit Verweis auf den Missbrauchskomplex (Kap. 5.4). Die einsetzende Aufarbeitung in den Kirchen der Reformation, so lässt sich vermuten, dürfte eigene Ursachen und Bedingungszusammenhänge aufweisen, wie sie K. im Klerikalismus der katholischen Kirche bestimmt (168–171).

Konsequent wendet sich K. im Folgenden den Handlungsfeldern zu, in denen sich das Amt in der Kirche als »Macht des Rituals« (Kap. 6), als »Macht des Wortes« mit dem Akzent auf der Bedeutung der »Predigt in der evangelischen Kirche« (Kap. 7) und als »Macht der Beziehung in Seelsorge und Beratung« (Kap. 8) entfaltet. Die genauen Einzelanalysen dieser Kapitel weisen die Dispositive kirchlicher Macht auf. Sie lesen sich als Fallstudien, mit denen K. im abschließenden neunten Kapitel »(n)eue Figurationen« kirchlicher Macht in Aussicht stellt. Sie zielen auf einen ambiguitätsbewussten, »offenen und transparenten Umgang mit Macht in der Kirche« (259) ab. Dem bereitet K. mit profunden Analysen den Weg – und dies sprachlich auf eine so gut lesbare wie spannende Weise. Ein Buch nicht zuletzt für die kirchliche Praxis!