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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

98-100

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Alkier, Stefan [Hg.]

Titel/Untertitel:

Zuversichtsargumente. Biblische Perspektiven in Krisen und Ängsten unserer Zeit. Bd. 2.

Verlag:

Paderborn: Brill | Schöningh 2023. 356 S. = Biblische Argumente in öffentlichen Debatten, 3/2. Geb. EUR 49,90. ISBN 9783506793478.

Rezensent:

Michaela Veit-Engelmann

Vier Bände umfasst die Reihe »Biblische Argumente in öffentlichen Debatten«; der hier vorliegende ist der zweite, der nach biblischen »Zuversichtsargumenten« angesichts von Krisen und Ängsten der gegenwärtigen Zeit fragt und zugleich die Reihe abschließt.

Bereits der Titel ist Programm. In 18 Aufsätzen wollen 17 Autorinnen und Autoren die Bibel als »Buch für die Welt« (IX) zum Sprechen bringen und als Grundlage evangelischer Theologie in den gegenwärtigen ethisch-theologischen Diskurs einspielen. Denn es wäre, so Herausgeber Alkier, »zu dumm, in der bedrohten Lage der Welt auf ihre innovativste kulturelle Ressource zu verzichten« (XII). Gleichzeitig wissen die Verfasserinnen und Verfasser aber, dass sich solche Zuversichtsargumente, »wenn sie denn Argumente sein sollen, […] nicht an der Wirklichkeit vorbeimogeln [dürfen]. […] Christlich-biblische Zuversichtsargumente müssen das anscheinend Offensichtliche durchschauen, indem sie so auf die Wirklichkeit eingehen, dass sie in der Perspektive des Glaubens auch über sie hinausgehen und ihr auf den Grund zu gehen versuchen« (195).

Erwachsen ist dieser Band wie seine Vorgänger aus dem Projekt Frankfurter Neues Testament (FNT) und wie dieses geprägt von dem Bemühen, die Sprache des Neuen Testaments in den Alltagskontext zurückzuholen – und gerade so dessen Bedeutung für den Alltag aufzuzeigen. Das gelingt hier über weite Strecken. Auf ca. 320 Seiten wird ein Parforceritt durch gegenwärtige Krisen der Menschheit geboten, die Texte überzeugen sowohl durch ihre Aktualität als auch durch die profunde Analyse der »Krisen und Ängste« der Gegenwart. Die biblischen Texte werden dieser Analyse (fast durchgängig) in hermeneutisch reflektierter und exegetisch versierter Weise zur Seite gestellt. Es ist wohltuend, dass die Bibel dabei nicht als Antwort auf alle Gegenwartsfragen erscheint, sondern als historisches Dokument ernst genommen wird. Gerade dann erweist sie sich als ein Buch, das über die eigene Zeit hinausreicht und die Welt neu zu sehen hilft.

Allerdings hätte sich die Rezensentin gewünscht, die Schreibenden hätten der Leserschaft noch mehr Rechenschaft über die Vielfältigkeit biblischer Stimmen abgelegt. Gelegentlich fragt man sich, warum nun genau diese oder jene Bibelstelle herangezogen wurde – und ob man nicht beim Verweis auf andere Verse auch zu anderen Erkenntnissen hätte kommen können.

Das erste Kapitel umfasst zwei Aufsätze, es dient der »Theologische[n] Orientierung« (3–32). So fragt Michael Welker nach »Religiosität in Zeiten globaler Krisen«. Er betont, die Theologie habe Gott viel zu lange zu einem bloßen »Punkt« erklärt, »letzter Bezugspunkt, Anfangspunkt, Ursprungspunkt« (9), nun gehe es darum, seine Lebendigkeit neu zu erfahren. Ulrich H. J. Körtner spricht von einem »Zeitalter der Angst« (17), angesichts dessen man aber nicht in naiver Vereinfachung Glauben und Angst gegenüberstellen dürfe: »Paradox formuliert ist Glauben der Mut zur Angst.« (27) Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.

Fünf Aufsätze sind unter dem Stichwort »Ökonomisierung« versammelt (35–118): Michael Rydryk schreibt über Kapitalis- mus(kritik), Kristina Dronsch über Aberwitzigreiche, Stefan Alkier untersucht den schmalen Grat zwischen Zuversicht und Zynismus, und Christine Tietz fragt nach dem Sonntag als Entschleunigungsoase. Ein Text von Cilliers Breytenbach zum Verhältnis von frühchristlicher Ökumene und Globalisierung rundet dieses Kapitel ab.

Einen ambivalenten Eindruck bietet das dritte Kapitel (121–242), das sich der »gefährdeten und gefährdenden Natur« widmet und dabei nicht nur »Überlegungen aus theologischer Sicht« zum Klimawandel anstellt (so profund von Friederike Nüssel) oder nach der »Beherrschbarkeit von Atomenergie« fragt, sondern angesichts der Erfahrungen der Coronapandemie Themen wie Schöpfungslehre (Andreas Schüle), Leiblichkeit (Katrin Bosse), Krankheit (Dirk Evers) und Normalität (Hans-Günter Heimbrock) noch einmal neu auf den Prüfstand stellt. So stellt Schüle beispielsweise fest: Die Frage, »wo und wie man SARS-Cov-2 nun ins Periodensystem der Theologie einfügen sollte, war und ist offen« (143). Doch mache die Pandemie es umso dringlicher, nach Gott als Schöpfer zu fragen – und Schüle tut das anhand verschiedener Schöpfungstexte, aus denen er zugleich Zuversicht sowie die Einsicht gewinnt, dass nach biblischer Vorstellung »in der Welt Chaos und Ordnung einander heraus[fordern]« (159). Befremdlich wirken hingegen Äußerungen wie die von Dominic Blauth, wonach »die in 1Kor 6,12 sowie 1Thess 5,19.21 steckenden Zuversichtsargumente die militärische Nutzung von Atomwaffen kategorisch aus[schließen]« (172). Bedarf es für diese Einsicht wirklich des Apostels Paulus? Hier wird das biblische Zeugnis zu einer Art Medizinschränkchen, aus dem sich der oder die Einzelne die passende Arznei für die eigene Befindlichkeit auswählen kann.

Den wohl größten Spagat verlangt das mit »Digitalisierung« überschriebene Kapitel (245–319) der Leserin ab. In dem von Birte Platow verfassten Aufsatz »Verdrängung des Menschen?« stößt man auf so spannende Ideen wie Georg Lukács’ »transzendentale Obdachlosigkeit« (253) und Überlegungen zum menschlichen »Privileg unsystematischer Fehler« (262), für das die christliche Theologie »Bilder, Narrative, eine Lehre und vor allem Versöhnung gefunden« habe (ebd.). Demgegenüber lässt der Beitrag von Roman Winter-Tietel erahnen, wie schwer es gerade hier fällt, biblische Zuversichtsargumente fruchtbar zu machen. Er steuert einen im »Predigtstil« (303) gehaltenen Text zur unkontrollierten Macht digitaler Konzerne bei und will »zur Ein- und Zustimmung ein[laden]« (303). Die Rezensentin möchte diese Einladung allerdings ausschlagen. Denn es ist zu einfach, wenn der Autor ein Zitat von 1Kor 1,26–28 damit einleitet, dass Menschen sich diese Verse als »(unfreiwillige) Datenspender oder Materialliefernden für KI-Trainings von Paulus zurufen lassen [dürfen]« (306). Inwiefern der aus der Johannesoffenbarung entlehnte »Dualismus zwischen […] der Macht des Tieres und der Ohnmacht Christi« »als Verstehenswerkzeug« (302 f.) für Digitalisierung dienen kann, bleibt mehr als fraglich. Kein Theologe würde wohl seinem Schlusssatz widersprechen: »Auch das Digitale ist nur das Vorletzte.« (318) Bloß: Was heißt das?

Ein aus aktuellem Anlass verfasster Beitrag von Michael Rydryck über »Krieg und Frieden« (323–336) rundet den Band ab. Auf Grundlage des biblischen Zeugnisses erinnert er daran, dass Gott »Schutz für die Opfer und Richter der Täter« ist (331) – und fragt zugleich, wie sich Christen ganz konkret für den Frieden einsetzen können.

Wer diesen Band liest, tut das über weite Strecken mit Gewinn. Er oder sie kann sich erfreuen an der Sorgfalt, mit der hier wissenschaftlich – ethisch, gegenwartshermeneutisch und exegetisch-theologisch – gearbeitet wird, und bekommt einen umfassenden Überblick und exemplarische Tiefenbohrungen zu vielen der gro- ßen Fragen der Gegenwart geboten. In der Tat: Hier wird ernst gemacht damit, dass Kirche und Theologie ihre Stimme als Teil dieser Welt zu erheben haben. Allerdings: Wo und wie ertönt diese Stimme so, dass sie Gehör findet? Biblische Zuversichtsargumente wird nur der für sich annehmen, der am Gottesbegriff festhält. So richtig es ist, dass die Bibel »Kriterien für die Bewertung und Gestaltung alternativer« Weltentwürfe bietet (50), so offen bleibt die Frage, wo und wie danach heute noch gesucht wird.