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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

77-79

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Zacher, Florian

Titel/Untertitel:

Marius Victorinus als christlicher Philosoph. Die trinitätstheologischen Schriften des Gaius Marius Victorinus und ihre philosophie-, kirchen- und theologiegeschichtlichen Kontexte.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2023. 596 S. = Patristische Texte und Studien, 80. Geb. 154,95. EUR. ISBN 9783110992779.

Rezensent:

Peter Gemeinhardt

Marius Victorinus ist in der Theologiegeschichte kein Unbekannter. Mit seinen Schriften zur Paulusexegese und zur Trinitätstheologie steht er aber im Schatten einflussreicher Theologen wie Ambrosius oder Augustin – zumal ihm Hieronymus das Etikett verpasste, seine Schriften seien valde obscuri und nur den eruditi zugänglich (vir. ill. 101). Ein solcher eruditus ist der Autor des vorzustellenden Buches, das aus einer Erlanger Dissertation hervorgegangen ist. Florian Zacher will gegenüber der früheren Forschung, die Victorinus entweder als »isolierten Einzelgänger« (46) oder als abhängig von philosophischen Systemzwängen gesehen hat, seine originelle »wissenschaftliche Theologie« herausarbeiten: Victorinus »bemüht sich um eine Wissen schaffende Theologie, da für ihn das Heil des Menschen wesentlich mit der Erkenntnis verbunden ist, die nur durch die Offenbarung des Vaters im Logos und Heiligen Geist vermittelt wird« (49). Dass dies nichts für Unkundige war, verschweigt der Vf. nicht (534); wie Victorinus sein facettenreiches Gesamtprojekt auf tiefgreifende Kenntnis antiker Rhetorik und Philosophie, biblischer Exegese und seinerzeitigen Trinitätsdebatten gründete, macht die Studie deutlich.

Das Buch beginnt mit der Forschungsgeschichte (1–49) und führt über drei Kapitel zur Biographie (50–101), zu den Kontexten in Rom zur Mitte des 4. Jh.s (102–156) und zum literarischen Aufbau von Victorinus’ theologischen Schriften (157–235) zu den drei Schneisen, die der Vf. anhand der Trinitätslehre (236–354), der Frage nach Materie im Allgemeinen und dem menschlichen Leib im Besonderen (355–439) und der Seelenlehre (440–523) durch das victorinische Schrifttum schlägt; eine knappe Summe (524–536) – unter explizitem Verzicht auf eine Verhältnisbestimmung zu Augustin (535) – rundet das Werk ab, das neben der Bibliographie auch noch Verzeichnisse von Bibel- und anderen Quellen enthält. Die Textgrundlage bilden die trinitätstheologischen Schriften – das Opus ad Candidum, die vier- bzw. fünfteilige Schrift Adversus Arium samt dem Kurztraktat De homousio recipiendo und drei Hymnen –, aber auch die Ars Grammatica, die Commenta in Ciceronis rhetorica und die Kommentare zu den Paulusbriefen werden ausgewertet, so dass sich tatsächlich ein Gesamtbild des victorinischen Œuvre unter dogmatischer Leitperspektive ergibt. Dabei erkennt der Vf. in den Trinitätsschriften, die in einem kurzen Zeitraum (ca. 358–360) entstanden, keine Denkentwicklung des Autors, sondern eine sukzessive Steigerung von Komplexität, die sich als »Ergebnis einer literarisch absichtsvollen Gestaltung« deuten lässt (229), deren Duktus der Vf. im Folgenden prägnant zusammenfasst (230–235). Deutlich zu lang geraten sind allerdings die Darlegungen zum »Aufbau der einzelnen Schriften« (161–222). Auch sonst ist das umfangreiche Buch nicht frei von Redundanzen. Das ist schlicht der Vorgehensweise geschuldet, da der Vf. die Argumentation des Victorinus unter Sachaspekten aufschlüsselt und akribisch die zentralen theologischen Punkte herauspräpariert, damit aber an vielen Stellen zur selben Pointe kommt, nämlich zur Eigenständigkeit von Victorinus’ Denken gegenüber vergleichbaren philosophischen und gnostischen Vorstellungen. Hier hätte manche Wiederholung vermieden werden können, um die Erträge der Untersuchung noch deutlicher hervortreten zu lassen.

Die Hauptthese des Vf.s ist nämlich rundum überzeugend: Er stellt den Lesenden Marius Victorinus als eigenständigen, in zeitgenössischen Diskursen bewanderten und gut vernetzten Theologen vor Augen, dessen Werk paradigmatisch zeigt, warum über die Trinitätstheologie so lange und so intensiv gestritten werden musste. Hängt doch für ihn das Heil des Menschen an der Möglichkeit der Gotteserkenntnis – diese kann aber nur durch den wesenseinen Sohn offenbart werden, damit die Heilsoffenbarung vollständig ist und die Transzendenz Gottes gewahrt bleibt (238.265). Victorinus’ Projekt einer systematischen Trinitätstheologie war »das erste dieser Art in der antiken christlichen Theologie« und stand nicht zuletzt aufgrund der fehlenden lateinischen Terminologie vor großen Herausforderungen (240). Victorinus bleibt im Prinzip der miahypostatischen Theologie eines Markell von Ankyra oder Athanasius von Alexandrien treu und entwickelt keine »neunizänische« Dreihypostasenlehre (250; von einer »markellisch-abendländischen Gleichsetzung von Substanz und Hypostase« [307] zu sprechen ist missverständlich, da die Protagonisten vorwiegend aus dem Osten kamen). Um auch den Geist in diese Einheit zu integrieren, spricht Victorinus idiosynkratisch davon, dass »beide zugleich der eingeborene Sohn Gottes« sind (312), aber verschiedene Aufgaben erfüllen. So konstituiert sich »das göttliche Wesen […] als eine Trinität aus ruhendem Sein, absteigendem Leben und aufsteigender Weisheit« – »erst die Interaktion dreier distinkter Hypostasen bringt das eine göttliche Wesen hervor und macht die göttliche Substanz aus« (315). Nicht reflektiert wird die Rede von »immanenter und ökonomischer Trinität« (195 u. ö.), einer modernen Denkfigur, deren Passgenauigkeit für patristische Trinitätstheologien im ökumenischen Gespräch intensiv diskutiert worden ist.

Der Versuch einer »philosophischen Durchdringung des christlichen Bekenntnisses« (403) prägt auch Victorinus’ Rekonstruktion der Schöpfungslehre und der Eschatologie: Hierzu unterscheidet er zwischen einer »rationalen« und einer »materiellen Seele« (383–400, mit differenzierter Diskussion ähnlicher Modelle in früheren, teils gnostischen Texten), um sowohl die Möglichkeit der Verbindung von Seele und Materie als auch der Inkarnation des Logos zu erklären, wobei der Unterschied zur »Seelenspur« Plotins »im schöpferischen Willen Gottes begründet« ist (402), nicht in einer Emanation. Hier und durchgehend zeigt der Vf., dass eine Nähe zu neuplatonischen Gedankengängen nicht – wie z. B. für Ernst Benz (15) oder Pierre Hadot (22) – bedeutet, dass der Rezipient ausschließlich in den Bahnen solcher Systementwürfe gedacht habe. Die Freiheit gegenüber früheren und zeitgenössischen Vorstellungswelten bringt Victorinus vielmehr auf originelle Gedanken: So löst er Origenes’ Problem, es könne im Eschaton keine Körper mehr geben, wenn der immaterielle Gott »alles in allem« sei (1Kor 15,28), durch die These, auch die Materie sei beseelt und damit »erlösungsfähig« (412). Die präexistente menschliche Seele muss sich mit der Materie verbinden, um dort Erfahrungen von Gut und Böse zu machen, die sie zur Vervollkommnung führen; daher entsprechen sich Protologie und Eschatologie nicht spiegelbildlich, vielmehr ist die Weltschöpfung samt ihrer Geschichte als Lernort, der zu vertieftem Gotteswissen führt, sensu stricto heilsnotwendig (456). Hier gelangt Victorinus zu Denkfiguren, die später anstößig erschienen sein mögen, wie auch die Definition der Seele als »zweite einheitliche Trinität« (trinitas unalis secunda, zit. 472), da nur dann die Selbst- zur Gotteserkenntnis führen könne. An diesen Gedankengängen, die hier nur exemplarisch skizziert werden können, macht der Vf. plausibel, dass die komplexen Überlegungen zu Gott, Schöpfung und Seele primär dazu dienen, »die Erlösung des einzelnen Menschen in seiner gesamten leiblichen, seelischen und geistigen Existenz« denkmöglich zu machen (223). All das war nicht das Werk eines Außenseiters, sondern eines Angehörigen der intellektuellen Elite Roms, der sich vermutlich schon lange vor seiner (von Augustin in dramatischer Inszenierung berichteten) Taufe mit Christlichem beschäftigte, der sich aber weiterhin als Rhetor verstand (99) und in seinen Schriften schulrhetorische Argumentationstechniken verwendete. Damit wird Victorinus zum Zeugen eines intellektuellen Milieus in Rom, zu dem Christen und Nichtchristen gehörten: Die Distinktion gegenüber Ungebildeten führte auch zu Kohäsion unter den Gebildeten (96). Insofern wollte Victorinus vielleicht gar nicht, dass seine Schriften allen zugänglich waren. Den modernen Lesenden verschafft das vorliegende Buch hingegen einen gelungenen Zugang zu diesem »christlichen Philosophen«.