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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

59-61

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Heidel, Andreas-Christian

Titel/Untertitel:

Das glaubende Gottesvolk. Der He­bräerbrief in israeltheologischer Perspektive.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XIII, 328 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 540. Kart. EUR 84,00. ISBN 9783161596094.

Rezensent:

Martin Karrer

Andreas-Christian Heidel stellt sich in seiner Studie (Diss. Universität Zürich 2020, betreut von Jörg Frey) einem schwierigen Thema: ΠΡΟΣ ΕΒΡΑΙΟΥΣ, der nachträgliche Titel des Hebr, kann im Sinne von »an die Hebräer« (= die Menschen, die auch als Nachfolger Jesu ganz in der Tradition Israels stehen) oder im Sinne von »gegen die Hebräer« gedeutet werden (πρός begegnet nicht selten für »gegen«, so auch in Acts 6,1). Beide Deutungen begegnen in der Auslegungsgeschichte (die kritische Deutung in einer speziellen Wendung »gegen Judaisierer« bei B. P. W. S. Hunt, The Epistle to the Hebrews: an anti-Judaic treatise?, Studia Evangelica, 2, 1964, 409; Heidel 3 mit Anm. 2). Auch wenn der Hebr-Autor im Judentum und der Hebr vor dem »Parting of the ways« angesiedelt werden, erledigt sich das Problem nicht. Die Frage ist, ob die Schrift gegen eine andere Richtung des Judentums polemisiert und ein Dilemma fürs christlich-jüdische Gespräch bleibt (Forschungsgeschichte 6–37). H. spitzt es zu auf die Leitfrage seiner Arbeit (39–41.253): Ergibt sich aus dem Hebr eine positive eschatologische Heilsperspektive für das nichtchristliche Israel? Da diese Frage in der Forschung bes. an Röm 9–11 entwickelt wurde, begleitet ein implizites Gespräch mit dem Entwurf des Paulus die Arbeit (von 36 f. über 99 und 146 bis 260–268).

Die Einleitungsfragen kann H. für seine Fragestellung relativ offenlassen; er neigt zum dreiteiligen Aufbau des Hebr nach Nauck (1,1–4,13; 4,14–10,18; 10,19–13,21) und einer Datierung in die 60er Jahre, gerichtet an einen Adressatenkreis aus Juden- und Völkerchristen (46–59).

Ausschlaggebend ist die exegetisch-systematische Erörterung. H. beginnt sie mit dem Vergleich der »Heilsordnung in Jesus« und der »levitischen Heilsordnung« in Hebr 1–10 (Zitate 44). Der Begriff »Heilsordnung« übersetzt dabei διαθήκη (65); daher werden die Vorstellungen der διαθήκη und Jer 32(LXX 38),31–34 perspektivisch zum Rahmen für den Kontrast der Priesterordnungen nach Aaron-Levi und nach Melchisedek. Das steigert die christologische Pointe; Jesus ist laut H. »ein vollkommen überlegener Hohepriester sui generis nach der Ordnung Melchisedeks« (98; bei einer Argumentation von Melchisedek aus bräuchte es den Zusatz »sui generis« nicht). Die Rettung Israels (»der leiblichen Nachkommen Abrahams« 99) ist mithin ohne Abstrich an der Christologie zu erörtern. Wie kann das geschehen? H. findet den Schlüssel im Verständnis des Glaubens und der Eschatologie des Hebr:

Der Glaube (101–146; Schwerpunkt Hebr 11) hat im Hebr eine Geschichte seit Abel (Schema S. 117), so dass nicht die Unterscheidung Israel-Völker maßgeblich ist, sondern die Relation zur Zukunft, zur verheißenen Ruhe mit Gott. Die Erörterung des Glaubens muss daher laut H. der christologischen Perspektive eine eschatologische Perspektive zur Seite stellen (Auslegung von 11,1). Der Glaube geht eine Beziehung zum Unsichtbaren und der Zukunft ein (vgl. das Schema zu Raum und Zeit im Hebr S. 164) und erfährt dieses Unsichtbare als erwiesen, so dass es das Leben ändert (Auslegung von Hebr 11,1, S. 103–111). Interessanterweise spricht der Hebr hier aber nicht vom Glauben an Christus, sondern an Gott (11,6; vgl. bes. 126). H. streift die Wertschätzung des Moses für den der Schmähung unterworfenen Gesalbten in 11,26 (eine der schwierigsten Stellen im Hebr) nur (121f. u.ö.) und entgrenzt die Vorstellung des Glaubens; sie ist in der soteriologischen Erfahrung auf die Christologie angewiesen (vgl. das vorangehende Kapitel) und doch nach Hab 2,4/Hebr 10,38a perspektivisch über die Christusnachfolge im engeren Sinn hinaus zu öffnen.

Das nun führt zu einer eschatologischen Weiterreflexion. H. überschreibt das entsprechende Kapitel (die Auslegung weiterhin systematisch ordnend) mit »Heilsplan Gottes« (147–188, Zitat 147) und rahmt es durch die Auslegung von 11,39 f. Die Glaubenszeugen vor Christus sollen die Verheißung und Vollendung laut diesen Versen nicht ohne die »neutestamentlichen Gläubigen« (44) »erlangen« (180–182, Zitat 182; das Medium κομίζομαι deutet H. wie die Aktiv-Form analog zu λαμβάνω, was möglich ist, aber die Bedeutung des Mediums ein wenig schwächt). Das wahrt soteriologisch den christologischen Vorbehalt und zwingt doch den nichtneutestamentlichen Gläubigen Christus nicht auf. Alle sind sie unterwegs zur zukünftigen Stadt.

Vorbereitet sind wir auf die Pointe, die H. unter besonderer Beachtung von 12,22–24 und 13,14 darlegt. Die Überschrift des Kapitels (189–249), »Die Vereinigung des glaubenden Gottesvolkes« (189), muss dabei um das zentrale Bild von 12,22–24 ergänzt werden: Die Vereinigung unter Gottes Herrschaft findet am Zion, im himmlischen Jerusalem statt, somit dem Raum, der sich aus den Schriften Israels ergibt (193–202). Eine Festversammlung ist sie und umfasst die Gemeinde der Erstgeborenen, derer, die in den Himmeln (H. übersetzt das wie den Singular, 207) aufgeschrieben sind, ebenso wie Jesus (202–213). H. macht sich die Auslegung nicht leicht; denn aufgrund seines von Anfang an verfolgten christologischen Akzents zieht er eine Verbindung zwischen den Erstgeborenen und Jesus, dem Erstgeborenen, und weist zudem auf den soteriologischen Schluss der Szene in 12,24 hin. D. h. zwei Ziellinien berühren sich, die soteriologische Bindung des Hebr ans Christusgeschehen und die Öffnung der Gemeinde auf die ecclesia/Versammlung ab Abel. Wer die Linien verengt, wird die Vollendung der nichtchristlichen Menschen auf die Generationen vor Christus einschränken (231). Doch der Ausblick aufs Gericht in 12,26–29 (nach dem Bild von 12,22–24) eröffnet einen weiteren eschatologischen Spielraum: »alle Generationen des glaubenden Gottesvolkes« stehen »bis zum Zeitpunkt des Endgerichts noch vor ihrem Eintritt in die himmlische Stadt« (233), und selbst das ist zu wenig gesagt. Gott wird in der großen eschatologischen Erschütterung seine Souveränität wahren, so dass gilt: »der Zieleinlauf […] geschieht erst eschatologisch mit der – dem menschlichen Urteilsvermögen völlig entzogenen (!) – Vollzahl aller Generationen des glaubenden Gottesvolkes, das als Ganzes aufgrund seines Glaubens durch das Endgericht hindurch gerettet werden wird« (249).

Die Erträge (253–268) sind nun rasch zusammengefasst: Soteriologisch konzentriert sich der Hebr so sehr auf die Christologie, dass sich laut H. nur von einem Heilsweg – dem Heilsweg in Christus – sprechen lässt, nicht »von zwei separaten Heilswegen« (257). Doch zugleich ist zu beachten, dass »der Glaube durch die gesamte Menschheit und damit auch durch […] Israel hindurch eine einzigartige Gemeinschaft – eine ecclesia invisibilis des Glaubens« stiftet (259, dort hervorgehoben). Das heißt nicht, dass ganz Israel gerettet wird, wie es auch nicht heißt, dass die ganze Menschheit gerettet wird. H. verweist auf das negative Beispiel Esaus und auf die Kritik an der Wüstengeneration in 3,11.16 f. (263); die m. E. notwendige Korrektur der Syntax von 3,16 (die rhetorische Frage von NA28 ist durch eine Einschränkung der Kritik zu ersetzen; vgl. Luther 1545 und die Revision der Lutherbibel 2017) nimmt er nicht wahr (er interpretiert den Abschnitt nicht im Detail). Aber es heißt laut H., dass ein jüdischer Vollzug des Gottesdienstes, der in der Situation des Heute »treu gegenüber Gott« erfolgt, ausdrücklich zu würdigen ist (265). Diese Würdigung ist soteriologisch nach H. am Ende mit der Christologie zusammenzubinden; über die Parusie kommt auch gegenüber Israel das christologische Zentrum des Hebr zum Zug (265; diesen Parusie-Akzent entfaltet der Hebr allerdings nicht unmittelbar).

H. weiß, dass diese Position im christlich-jüdischen Gespräch ihrerseits nicht einfach ist. Er verlangt in seinen Schlusserwägungen, das ganze Neue Testament zu beachten und die Rettung der gesamten Menschheit weiter zu reflektieren, in der »Anstrengung um eine eschatologische Heilsperspektive Israels nicht abzulassen und zugleich die […] Notwendigkeit und Unersetzlichkeit des Heilswerkes Jesu an keiner Stelle aufzugeben« (273–276, Zitat 276).

Die Studie verdient in ihrem theologischen Ernst hohen Respekt. Exegetisch sind zugleich einzelne Fragen erlaubt. Der Austausch mit der jüdischen Lektüre des Tenach über den Gebrauch der Septuaginta (auf der die für Christologie zentralen Zitate des Hebr fußen) und über die Kritik der Priesterordnung Aarons durch die Ordnung Melchisedeks muss m. E. gesucht werden. Die Wertschätzung alles Alten in der Antike ist mit zu beachten, wenn vom alten Bund bzw. der alten »Heilsordnung« zu sprechen ist. Die Generation der Väter in der Wüste ist differenzierter zu sehen; wenn die Interpunktion von Hebr 3,16 korrigiert wird (nach meiner Lektüre des Hebr verbitterten dort manche, nicht alle). Es gibt mithin exegetische Möglichkeiten, den Weg Israels in sich stärker zu würdigen (und ich würde der Exegese noch mehr Rang gegenüber der Systematik einräumen). Aber diese Fragen zeigen nur, wie drängend und wichtig das Thema ist, dem H. sich stellt und das er in exegetisch-systematischer Betrachtung auf eine sehr lesenswerte Weise durchdringt.

Die Studie enthält ein umfangreiches Literaturverzeichnis (277–298; gleichwohl ließen sich noch Artikel ergänzen, z. B. J. C. McCullough, Anti-Semitism in Hebrews?, IBS 20, 1998, 30–45). Sie ist durch Stellen-, Autoren- und Sachregister gut erschlossen (299–328). Tippfehler (z. B. Verschreibung von Edinburgh, 295) sind selten.