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Ausgabe:

Januar/2024

Spalte:

39-41

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Martini, Annett

Titel/Untertitel:

»Arbeit des Himmels«. Jüdische Konzeptionen rituellen Schreibens in der europäischen Kultur des Mittelalters.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2022. XI, 336 S. m. zahlr. Abb. = Studia Judaica, 115. Geb. EUR 92,95. ISBN 9783110721904.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Es ist bemerkenswert, dass dem zentralen Gegenstand der Religion des Judentums, der Tora, in ihrer realen Gestalt und Verwendung bislang so wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteilwurde. Die vorliegende Monographie geht auf eine 2018 an der FU Berlin am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften eingereichte Habilitationsschrift zurück, die diese Wissenslücke aus judaistischer Perspektive schließen möchte. Annett Martini ist bereits durch mehrere Studien zu rituell verwendeten hebräischen Schriftrollen, vor allem Tora- und Esterrollen, ausgewiesen. Siehe dazu zuletzt auch ihre Studie »Zwischen Offenbarung und Kontemplation« über mehrere in der HAB Wolfenbüttel erhaltene Tora-Rollen, mit meiner Besprechung in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022].

In der vorliegenden Monographie werden nach einer kurzen Einleitung in zehn Kapiteln systematisch unterschiedliche Thesen, Ziele und Methoden der Erforschung von Herstellungsprozessen von Tora-Rollen beleuchtet. Schon die Einleitung macht auf das für das Verständnis des Judentums bis heute wichtige Phänomen aufmerksam, dass sich trotz aller technischer Neuerungen die Gestalt von Tora-Rollen seit der Antike kaum verändert hat. Doch verweist ein Blick in die reiche Kommentarliteratur zur Anfertigung von Schriftrollen im Judentum auch auf die lebhaften Auseinandersetzungen mit den materialen Dimensionen der Überlieferung. Trotz aller Bemühungen um Kontinuität und Bewahrung veränderte sich die Technik und Ausgestaltung der Rollen dennoch und dies wirft ein interessantes Licht auf die Schriftkultur des Judentums insgesamt.

Trotz des beachtlich gestiegenen Interesses an der jüdischen Handschriftenkultur in den vergangenen Jahrzehnten im Zusam­menhang mit wichtigen Entdeckungen alter Tora-Rollen in europäischen Sammlungen ist der innerjüdischen Entwicklung der Schreibkultur bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Insbesondere im Hinblick auf die alttestamentliche Wissenschaft dürften jedoch die in dieser Studie erarbeiteten Ergebnisse breitere Rezeption verdienen. Denn die bis heute im Judentum aller Strömungen gepflegte Kultur der Schriftrollen verweist auf eigene, deutlich von Christentum und Islam unterscheidende Momente des Schriftverständnisses hin und ist insofern auch theologisch relevant.

Ziel der Studie M.s ist es, den bedeutenden »Schatz an vernachlässigten Quellentexten« zu heben und dabei zentrale Aspekte jüdischen Verständnisses der Schrifttradition zu erhellen. Statt den Artefakten selbst nachzuspüren, werden in dieser Studie vor allem die aus dem aschkenasischen Raum erhaltenen Texte und Traditionen über die Anfertigung von Tora-Rollen kulturhistorisch analysiert und chronologisch – vor allem in der Zeit vom 11. bis 15. Jh. – verortet. Ziel ist es, die Neuerungen und Modifikationen im Vergleich mit antiken Quellen der Schreiberliteratur darzustellen und ihre Ursachen zu erforschen. Hatte die christliche Umweltkultur einen Einfluss auf die Entwicklungen?

Eine bemerkenswerte, im zweiten Kapitel des Buches vertretene These M.s ist, dass sich die enorme Spannung zwischen Juden und Christen im mittelalterlichen Europa nicht zuletzt in einer theologischen, in die Antike zurückreichenden »Apologie der heiligen Bücher« (23) (Evangeliar und Tora) entlud. Das dritte Kapitel stellt die frühen rabbinischen Vorstellungen zu Schreibmaterialien im christlich dominierte Kulturraum Europas und sein Einfluss auf rabbinische Debatten um Materialien koscherer Schriftrollen wird im vierten Kapitel in den Focus genommen. Im Gefolge des »material turn« sollen Tora-Rollen nicht als tote Artefakte, sondern als »Aktanten« betrachtet werden, die an rituellen und sozialen Praktiken Anteil haben.

Das fünfte Kapitel erhellt die Schreibkultur der sog. Deutschen Frommen (Ḥaside Ashkenaz), die ihre Zentren im 13. Jh. in Regensburg und Worms hatten. Sie überlieferten reiches Quellenmaterial, in dem die Komplexität der Schriftrollenherstellung und das magische Potential des Materials besonders durchdrungen wurde. Dieses informative Kapitel, in dem zahlreiche bemerkenswerte Belege aus dem Sefer Ḥasidim für das christlich-jüdische Verhältnis analysiert werden, belegt die These, dass die monastische Schreibkultur den Anstoß für den Entwurf eines breiteren Regelkanons durch die Ḥaside Aschkenaz gab. Um diese These zu stützen, wird ein knapper Überblick auf die generelle Haltung der Frommen auf christliche Geistliche und mit der Schreibkultur befasste Mönche präsentiert. Speziell mit den Debatten um in Tora-Rollen und Tefillin wie Mezuzot verwendete Sonderzeichen, sogenannte Otiyot Meshunot, und Tagin (Krönchen-Haarstriche) befassen sich Kapitel acht und neun der gelehrten Studie. In diesen Teilen der Arbeit werden wichtige neue Aspekte des Buchstaben- und Schriftverständnisses des spätantiken und mittelalterlichen Judentums berührt. Ein abschließendes zehntes Kapitel kann man als Anhang zu den vorangehenden Kapiteln betrachten: Es stellt das Handbuch für Schreiber, den Sefer Alfa beta, von Yom Tov Lipmann Mühlhausen aus dem frühen 15. Jh. vor, in dem dieser durch seine Apologie des Judentums bekannte Autor die wichtigsten Schreiberregeln zusammengestellt hat und die korrekten Formen der für die Anfertigung von Tora-Rollen und Tefillin und Mezuzot verwendeten Buchstaben erläutert. Damit verbunden sind zahlreiche Hinweise zu den symbolischen, mystischen und philosophischen Vorstellungen, die mit den einzelnen hebräischen Buchstaben verbunden werden. Sein Werk stellt im Grunde eine Brücke zwischen Mittelalter und Neuzeit dar, zumal es in vielen Varianten bis in neuere Schreiberhandbücher übernommen wurde.

Hinterfragt werden könnte, ob Torarollentexte tatsächlich »frei von jeglichen Hinzufügungen der mündlichen Tradition« angefertigt wurden, wie die Vfn. betont. Sind sie nicht doch Ausdruck dafür, dass sich diese speziellen Formen ihrer Überlieferung nur durch rabbinische mündliche Überlieferung bewahren und verstehen lassen? Etwa auch im Vergleich zu samaritanischen Tora-Rollen? Aus vergleichender Perspektive sind sie doch beredtes Zeugnis einer mündlichen Tora (nicht Tradition) und ihrer wechselseitigen Wirkung aufeinander. Insofern wäre aber auch zu hinterfragen, ob die Tora allein als »Herzstück des kulturellen Gedächtnisses« (26) zu verstehen ist – liegt hier nicht ein von christlichen Theologen immer wieder an das rabbinische Judentum herangetragenes Missverständnis zu Grunde? Die Tora ist doch nach rabbinischem Verständnis immer eine zweifache, schriftliche und mündliche. Insofern gibt es keine »schriftliche« ohne eine »mündliche«.

Nicht der »heilige Text« definiert die Glaubensinhalte, sondern der durch die mündliche Tradition samt Minhagim vermittelte Vollzug. So wird ja auch nie aus der Torarolle »gelesen«, sondern in unterschiedlicher Weise der Text kantilliert, und auch dies nie, ohne davor und danach die dafür in der mündlichen Tora überlieferten Segenssprüche zu rezitieren – ein »reines« Schriftstudium, wie man es sich vielleicht am Schreibtisch des Gelehrten vorstellt, bildet doch nicht das Band, welches die weit zerstreuten Kulturräume des jüdischen Volkes zusammenhält (26). Die enge liturgische und damit auch musikalische Verbindung von Lektüre und Performanz wäre auch im Hinblick auf die Verwendung des Evangeliars in der Messliturgie zu bedenken. Dabei fällt auf, dass der Vergleich Tora-Rolle und Evangeliar als »materieller Gedächtnisträger des christlichen Glaubens« gelegentlich sehr schematisch durchgeführt scheint – so anregend die Gegenüberstellung Tora und Evangelium im Anschluss an die Arbeit u. a. von Th. Rainer (2011) ist, so ist doch zu berücksichtigen, dass auch in der christlichen Tradition das Alte Testament Gegenstand der Verehrung bleibt und – etwa in Psaltern – ebenso kontinuierlich in der Liturgie verlesen wurde.

Insgesamt ist die methodisch stringente Arbeit sorgfältig gearbeitet (lies 141 statt »Isaak Bear« den Autorennamen Isaak Baer) und bietet viel weiterführendes Material für die Forschung an hebräischen wie auch christlichen mittelalterlichen Handschriften. Die Autorin argumentiert dabei stets vor dem Hintergrund des aktuellen Standes der Forschung, etwa im Hinblick auf die Ḥaside Aschkenaz oder die Tosafisten, und fasst die neuere Sekundärliteratur gut zusammen. Sehr hilfreich ist die Übersetzung einiger Abschnitte aus dem Sefer Alfa beta von Jom Tov Lipmann Mühlhausen.