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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1268-1270

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Eiffler, Felix, u. David Reißmann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

»Wir können’s ja nicht lassen …«. Vitalität als Kennzeichen einer Kirche der Sendung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 268 S. = Mission und Kontext, 1. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374072958.

Rezensent:

Tobias Faix

Die Kirchen in Deutschland erleben eine herausfordernde Zeit. Die jährlichen Kirchenaustrittszahlen nehmen dramatisch zu, es mangelt an Fachpersonal auf allen Ebenen, und die Ehrenamtlichen sind nach der langen Coronazeit und den ständigen Reformbemühungen oftmals müde und ausgelaugt. Kurzum, keine einfache Zeit für Kirche. Und genau in diese Situation spricht der Sammelband »Wir können’s ja nicht lassen …« thematisch hinein, denn es geht um Vitalität als Kennzeichen von Kirche. Es handelt sich dabei um eine Dokumentation des internationalen Symposiums des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) der Universität Greifswald im Jahr 2022. Somit haben wir es mit einem Sammelband aus 15 interdisziplinären und internationalen Beiträgen zu tun, die die Thematik vorwiegend aus evangelischer Perspektive behandeln. Dazu kommt neben dem Geleitwort (der Herausgeber der Reihe: Herbst, Eiffler und Todjeras) und dem Vorwort (der Herausgeber des Buches: Eiffler und Reißmann) eine ausführliche Einleitung in das Symposium und dem daraus entstandenen Band und einer längeren Tagungsbeobachtung am Ende des Buches, die einen guten Einblick in das Symposium gibt, gerade für diejenigen, die nicht dabei waren.

Was alle Beiträge inhaltlich eint, ist die Auseinandersetzung mit dem Leitbegriff der »Vitalität« im Kontext von Kirche. Dabei gibt der Titel des Buches »Wir können’s ja nicht lassen …« aus Apostelgeschichte 4,20 die programmatische Richtung vor und beschreibt die Motivation, auch und gerade in schwierigen Zeiten nach dem Grund und der Identität von Kirche zu fragen. Was hält Kirche lebendig? So einfach die Frage anmutet, so komplex ist sie in unserem heutigen Kontext zu beantworten. Die Autorinnen und Autoren des Buches versuchen sich ihr aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu nähern und dabei den Ist-Zustand der Kirche (meist der evangelischen) zu beschreiben. Dabei wird die Suche nach der Identität der Kirche, also was Kirche zur Kirche macht, und die Frage nach ihrer Vitalität multiperspektivisch untersucht. Dazu teilt sich das Buch in drei inhaltliche Bereiche auf, die sich mit der Thematik der Vitalität der Kirche beschäftigen.

Zunächst werden verschiedene Perspektiven auf den Begriff Vitalität im Kontext Kirche eröffnet (27–130). Von einer neutes-tamentlichen Standortbestimmung (Böttrich, 27–48) über eine systematische Betrachtung (Greggs, 49–62) und der Frage nach Spiritualität als Quelle der Vitalisierung (Haußmann, 91–114) bis zu notwendigen Abschieden, um wieder neu vitalisiert zu werden (Kunz, 115–130).

Im zweiten Teil werden verschiedene Forschungsarbeiten aus dem Umfeld des IEEG dargestellt, so dass man einen umfangreichen inhaltlichen Einblick in die Arbeit des Instituts während der letzten Jahre bekommt (131–190). Dies ist deshalb beachtenswert, da es sich um eine Art »Vermächtnis« des IEEG handelt, welches es an der Universität Greifswald nicht mehr gibt (2004–2022). Teile des Instituts gehen der inhaltlichen Arbeit an unterschiedlichen neuen Standorten nach, wie beispielsweise der Forschungsstelle »Missionale Kirchen- und Gemeindeentwicklung« (MKG) am »Center for Empowerment Studies« an der Martin-Luther-Universität Halle oder dem »Werk für Evangelisation und Gemeindeaufbau« (WeG) der Evangelischen Kirche Österreichs. So ist es nicht verwunderlich, dass hier vor allem Autorinnen und Autoren schreiben, die eng mit dem IEEG verbunden sind. Einzig die Züricher Theologin Sabrina Müller passt da nicht so recht hin- ein, gibt aber einen guten Ein- und Überblick über die aktuelle Debatte der Kirchenentwicklung und gibt dem Lesenden drei konkrete Strategien für den institutionellen Umbau kirchlicher Strukturen mit (147–155).

Der dritte Teil (213–264) versucht nun eine größere Perspektive einzunehmen und entwirft einen Ausblick, der über Definitionen, Standortbestimmungen oder kirchentheoretische Reflexionen hin- ausgeht. Dabei geht es um die Frage, wie wir das Potenzial (Em- powerment) von uns Menschen für Kirche nutzbar machen können (Domsgen, 213–226), wie Kirche Menschen eine Heimat und ein Zuhause geben kann, das mehr ist als ein sicherer Ort (Volf, 227–242) und wie Gottes großes Ziel mit den Menschen erreicht werden kann (Wrogemann, 243–256).

Die Stärke des Buches liegt in der multiperspektivischen Herangehensweise an ein wichtiges und bisher oft übersehenes Thema. Dabei ist besonders der interdisziplinäre Blick horizont- erweiternd, denn neben eher erwartbaren Zugangswegen aus den theologischen Disziplinen gibt es auch weitere Zugänge, etwa die gesellschaftliche Vision für eine »Heimatkirche« des kroatisch-amerikanischen Theologen Miroslav Volf (227–242). Volf nimmt das Bibelwort der »Wohnung Gottes« (Offenbarung 2,1–4) auf Erden in einer sich erneuernden Schöpfung auf und fragt, wie Kirche Menschen heute eine »heimat-bildende Beziehung« (232) geben kann. Anhand der eschatologischen Metapher des »neuen Jerusalems« zeichnet Volf ein Zukunftsbild eines »Zuhause-schaffenden Gottes« (»home-maker God«), dessen Beginn wir schon auf Erden feiern und leben können und dessen Vision der Zukunft unsere Gegenwart verändert.

Ein weiterer Zugang, der den üblichen Rahmen sprengt, kommt von Zimmer, Eufinger und Sellmann und nähert sich dem Thema empirisch: »Religiöse Vitalität erklären und messen. Ein vierdimensionales Wirkungsmodell erfolgreicher kirchlicher Arbeit« (63–90). Dieser aus der »ZAP-Schmiede« (Zentrum für angewandte Pastoralforschung) stammende Beitrag bringt die Perspektive der Wirkungsmessung und einen empirisch-soziologischen Blick auf die Thematik ein. Wirkungsorientiertes Handeln ist im Kontext von Kirche eher unüblich, ja sogar verpönt. Zu schnell, so der Vorwurf, unterliege man einer marktwirtschaftlichen Logik, die der des Reiches Gottes offensichtlich widerspricht. Und ja, schon beim Untertitel zuckt der eine oder die andere Theologin zusammen und vermutet beim Adjektiv »erfolgreich« schon rezeptartige Hilfestellungen für schnelle quantitative Erfolge. Aber das Autorentrio tappt nicht in diese Falle, sondern spannt einen feinen Faden von gesamtgesellschaftlicher Entwicklungsdiagnose zu konkreten Evaluationstools als systemischen Steuerungsinstrumenten kirchlicher Wirksamkeit. Ausgangspunkt ist die »Theorie of Change« (McLellan), die hilft, die komplexe kirchliche Praxis in eine empirisch messbare Größe zu bekommen. So soll nun der »Kreislauf der Trägheit«, in dem sich die Kirche befindet, in einen neuen Kreislauf der Vitalität geführt werden. Im Mittelpunkt stehen vier Felder der Vitalität als Zielgrößen einer religiösen Gemeinschaft (interne Funktionalität, geteilte Identität, situative Perfomance und transformative Einflüsse). Die Evaluation wird durch quantitative Fragebögen durchgeführt und mit begleitenden qualitativen Interviews der beteiligten Personen ergänzt, so dass eine umfassende Wirkungsanalyse inklusive Vitalitätsprofil und Entwicklungspotenziale entsteht. Dieser komplexe Vorgang beschreibt in der Tat einen Paradigmenwechsel in der Gemeindeentwicklungsarbeit und erfordert Mut. Gleichzeitig braucht es aber auch die Begleitung des ZAP, denn ohne begleitendes Expertenwissen ist dies wohl nicht durchzuführen.

Kommen wir zum Fazit des hier besprochenen Sammelbandes. Es ist selbstredend, dass die Beiträge in Umfang, Stil und inhaltlicher Qualität sehr unterschiedlich ausfallen. Manche sind beispielsweise im Rededuktus geblieben, manche wurden für das Buch im Sinne eines wissenschaftlichen Schreibstil bearbeitet. Manchmal hätte ich mir in der Verschiedenheit der Beiträge mehr Klarheit in den benutzen Begrifflichkeiten (Gemeindeentwicklung, Kirchentheorie etc.) gewünscht, um so leichter zu einer Gesamtschau zu kommen. Das Spannungsverhältnis zwischen Empirie und Theologie zieht sich etwas zusammenhangslos durch den Band, vielleicht auch deshalb, weil zwei Vorträge (von Witt und Fischer) es nicht in den Band geschafft haben. Hier liegt noch mehr Potenzial, wie auch der Beitrag von Zimmer, Eufinger und Sellmann gezeigt hat. Insgesamt bieten die einzelnen Aufsätze eine Vielzahl von wertvollen Erkenntnissen, und so ist das Buch ein wichtiger Beitrag zu einer oftmals zu reduktionistisch diskutierten Zukunft der Kirche.