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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1258-1260

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Beutter, Anne

Titel/Untertitel:

Religion, Recht und Zugehörigkeit. Rechtspraktiken einer westafrikanischen Kirche und die Dynamik normativer Ordnungen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 362 S. m. 13 s/w u. 4 farb. Abb. = Critical Studies in Religion/Religionswissenschaft, 016. EUR 100,00. Geb. ISBN 9783525554630.

Rezensent:

Wilhelm Richebächer

Afrikanische Kirchen, sofern sie von Missionaren aus Europa und Amerika angestoßen und mitgeprägt wurden, erhielten aufgrund der Exilierung vieler missionarischer Leiter im Zeitraum zwischen und nach den beiden Weltkriegen einen starken Impuls zur Selbständigkeit. Einheimisches Personal wurde mehr eingesetzt und ausgebildet. Dies führte ab den 1960er und 1970er Jahren auch zu eigenständigen Afrikanischen Theologien, die sich keineswegs hinter westlichen Theologien verstecken müssen. Jedoch noch vor dieser Entwicklung selbständiger Theologien existierten bisher wenig beachtete lebensweltliche, ja rechtspraktische Formen der Verhältnisbestimmung von traditionalen religiösen Ordnungen und christlichen Lebensordnungen. Auf die Entwicklung und Effekte solcher Rechtspraktiken im regionalen Gemeindeleben samt kirchlichem und staatlichem Kontext hat sich Anne Beutter mit ihrer Fallstudie konzentriert. Die Religionswissenschaftlerin legt eine ausgezeichnete interdisziplinär zwischen den Fachgebieten Religionswissenschaftliche Missions- und Kirchenhistorie einerseits und Praktischer Rechtswissenschaft sowie Rechtsanthropologie andererseits verortete und sowohl aufbaulogisch wie auch argumentativ zielsicher verlaufende Analyse vor.

Mit ihrer Methodik in der Tradition der sozialwissenschaftlichen Praxeologie Pierre Bourdieus stehend und in der technischen Ausführung der Methode bei Harold Garfinkels Dokumentenanalyse Anleihen machend, hat B., nachdem sie anlässlich von Archivarbeiten in der Basler Mission auf diese Quellen aufmerksam wurde, Protokollbücher des lokalen einheimischen Ältestenrates (»session«) des »Christian town« Apenkwa (nahe Akkra) der heutigen Presbyterian Church of Ghana (PCG) aus den 1950er Jahren (vor allem 1954/55) untersucht. So hat sie die in den Dokumenten stetig Niederschlag findenden Konzeptionen und Kriterien, wie z. B. Zugehörigkeit zur Kirche oder Führung eines christlichen Lebenswandels, nach denen der Ältestenrat das Leben der Gemeindemitglieder observierte, rekonstruiert. Gleichzeitig gelang es ihr, aus Formulierungen sowie Duktus der Protokoll-Aufzeichnungen die Verfahrensschritte der Ältesten im Umgang mit »Delinquent members« innerhalb der Gemeinde (z. B. durch Vorladung, Befragung, Gebet etc.), bei der Vergabe von Kirchenland zur privaten Nutzung, aber auch im Blick auf die interne gegenseitige Disziplinierung der Ältesten im bisweilen komplizierten Abgleich mit den Normen der Kirchenleitung und anderer Autoritäten nachzuzeichnen. Diese Analysen werden mit hoher Sprachsensibilität (Glossar in »Ga« und »Akan«) durchgeführt und klar zusammengefasst.

In zwei der über vierzig analysierten Verhandlungsfälle (alle diskutiert und im Anhang skizziert, hier S. 262–276.297 f.316) geht es z. B. um die begrenzte Hoheit des Ältestenrates in Eheauflösungsfragen und daneben um die für ihn statthaften Formen der Schadenskompensation bei Scheidungen: Ein insgeheim dreifach verheiratetes weibliches Gemeindemitglied verbleibt trotz des nach Bekanntwerden der Sache erfolgenden Einspruchs des Ältestenrates aufgrund einer zivilrechtlich erwirkten Erlaubnis beim dritten Ehepartner. Wie aber sind die beiden früheren Ehemänner, von denen der zweite bereits verstorben ist, zu entschädigen? Das traditionell gebotene Schlachten eines Schafes zur Kompensation des toten Ehemanns widerspricht der die Kirche prägenden presbyterianischen Theologie. Für den Ausgleich mit dem ersten noch lebenden Ehemann wird es aber akzeptiert. Gleichzeitig zeigen einige der Ältesten, dass sie im Grunde die traditionale kollektiv gestimmte Anthropologie internalisiert haben, wonach auch der »lebendtote« zweite Ehemann ohne Probleme Nutznießer dieses Opfers sein könnte. Westlich-theologische Normierung und traditional-religiöse Normierung stehen sich also sowohl konkurrierend als auch kongruent für die Ältesten einander gegenüber. Ergebnis ist schließlich, dass beiden Ordnungsnormen gemäß entschieden wird, indem neben der innerkirchlichen Verweigerung der Sakramentsteilhabe der Frau die traditionelle Kompensation für den ersten Mann zum Rechtsinstrument des Rates wird. Das Verfahren dient nicht zuletzt den Zielen, die Mitgliedschaft möglichst aller Kirchenmitglieder in Verbindung mit voller Lebensprosperität zu erhalten, ohne der christlichen Identität abträglich zu sein. Dafür werden entgegengesetzte Normen, z. B. mithilfe von Dokumenten, welche abseits des Konflikts Zugehörigkeit stärkend oder auch abschwächend markieren (u.a. Mitgliederkarten, die Beitragszahlungen festhalten, aber auch Gottesdienstteilnahmen registrieren) miteinander in Balance gehalten. Diese Rechtspraxis stellt kein Rechtsverfahren im Sinne westlicher Vorstellungen dar, wonach Recht mit übergeordneter Souveränität Personen einen jeweiligen Status garantiert und Handeln nach abstrakt gesetzten Regeln beurteilt. Vielmehr produziert sie in flexibler Nähe- und Distanzbestimmung zu verschiedenen (etwa kirchlichen und staatlichen) Ordnungsnormen Rechtsverhältnisse und hilft eine einmütige Raison des Sozialkörpers in Kirche und Gesellschaft zu gestalten.

Wohl kann diese Erkenntnis bei Lesern, die an ein eher statuswahrendes »objektiv und staatlich« vorgegebenes Rechtsgefüge gewöhnt sind, den Eindruck hervorrufen, dass dort doch eigentlich Systeme gegenseitiger Überwachung gefördert würden. Dieser nur partiellen Wahrnehmung ist jedoch entgegenzuhalten, dass durch solche Rechtspraktiken aus dem Abschluss der Kolonialphase im Westafrika der 1950er Jahre lokale Gemeinschaften nicht nur die Durchsetzung der eigenen normativen Ordnung (hier der Bedingungen der Zugehörigkeit zu einer afrikanischen Kirche als adäquater Vergesellschaftungsform des christlichen Glaubens) eingeübt haben. Sie haben auch für spätere Zeiten vorgemacht, wie ein sozial- und selbstbewusstes Aushandeln zwischen diversen Normen (etwa in Familie, Ga-lokaler Religion, Kirche) gelingen kann. Ähnliches wartet, bisher weitgehend verdrängt, als Aufgabe der Kirchen, religiösen Gemeinschaften u.a. in den zunehmend mehrkulturell aufgestellten westlichen Gesellschaften. So lohnte es sich, dass westliche Kirchen, angeregt durch diese Forschungsarbeit, genauer in den Blick nähmen, dass weder Religionen in einer von ihnen manchmal gewünschten Weise klare Grenzen der Zugehörigkeit haben noch »Recht« allein im Sinne des staatlichen Rechts realisierbar ist. Es ist möglich, Recht deutlicher als Perspektive auf empirische Lebenszusammenhänge zu verstehen, ja zu erproben, statt allein von ihm als abstrakt Gesetztem auszugehen.

Die Autorin dieser exzellenten Doktorarbeit hat ihre Hypothese (29), dass Rechtspraktiken der hier untersuchten Art nicht nur Nebenprodukte von religiöser Organisationsgestaltung sind, sondern eminent zur Selbstdeutung und -identifizierung dieser Organisationen beitragen, genial plausibilisiert und belegt. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zu den Feldern interkultureller Ethik, Afrikastudien, Religionswissenschaft, Rechtssoziologie und Theologie. Darüber hinaus gibt sie zahlreiche Anregungen zu weiteren Forschungen. Es ist zu hoffen, dass diese profilierte Arbeit sich bereits im Übersetzungsprozess ins Englische befindet, damit der damit bereicherte interkulturelle wissenschaftliche Dialog optimal Frucht bringen kann.