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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1225-1227

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Herzig, Eike Christian

Titel/Untertitel:

Antitheologie. Theologische Spuren bei Martin Heidegger und Rezeptionsversuche bei Heinrich Ott und Eberhard Jüngel.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. VII, 371 S. = Dogmatik in der Moderne, 41. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783161602351.

Rezensent:

Folkart Wittekind

Das Buch von Eike Christian Herzig ist als Dissertation bei Hans-Peter Großhans in Münster entstanden. Fünf längeren Abschnitten über Heidegger stehen zwei kürzere Abschnitte über Heinrich Ott und Eberhard Jüngel gegenüber. H. schlägt eine bestimmte Lesart für Heidegger vor: Diese soll dessen Kritik an aller bisherigen metaphysischen Theologie bestätigen und damit eine ganz neue Theologie fordern, ihn dabei aber nicht selbst als Theologen lesen. Heideggers Seinsphilosophie bildet (nur) einen (notwendigen) Rahmen, auch da, wo Heidegger selbst von Gott und Göttern und insofern vermeintlich theologisch redet. Innerhalb des Rahmens muss dann die Theologie selbständig neu gedacht werden, und zwar als Offenbarungstheologie in der Nachfolge Jüngels und Dalferths. Diese Interpretation ist mit den beiden rezeptionsgeschichtlichen Kapiteln eng verbunden: Heinrich Ott steht als Beispiel für ein sowohl transzendental-philosophisch als auch theologisch falsches Verständnis Heideggers, weil hier dessen Theoreme als Ergebnis einer konstruktiven Denkgeschichte verstanden und auf den Glaubensakt angewendet werden. Dadurch kann aber (was H. an Jüngel verdeutlicht) die Ereignishaftigkeit und Passivität der menschlichen Seinserfahrung nicht ausgedrückt werden. Beides ist auch theologisch gegenüber der Offenbarung zu beachten.

Der erste Teil bietet einen Querschnitt der Entwicklung von Heideggers Seinsdenken anhand ausgewählter Stationen zwischen 1919 und 1964. Leider wird die Auswahl der Texte nicht eigens begründet; mögliche theologische Konstruktionsbezüge der philosophischen Entwicklung werden bewusst ausgeblendet (so findet sich zum Beispiel nichts über die Paulus-Lektüre in Marburg, Bultmanns Anteil daran und die parallele Kierkegaard-Rezeption). Methodisch referiert H. weitgehend Heideggers Standpunkt aus den jeweiligen Texten, ohne weitere philosophie- oder theologiegeschichtliche Erklärung oder Einordnung. Er übernimmt damit auch die jeweilige Selbststilisierung, ohne ihren Konstruktionscharakter und die Funktion der Konstruktion durchsichtig zu machen. H. ist der Meinung, dass die »Seinsgeschichte« mit ihrem Verbergungsstatus in der Gegenwart nicht selbst wieder eine Interpretationskategorie ist, sondern real.

Der zweite Teil bietet Heideggers Radikalisierung von Nietzsches Christentumskritik. Theologische Kritik, Modernekritik und Denkkritik gehen ineinander über. Gott darf und muss nicht begründet werden, er bleibt vielmehr in der Schwebe und Unentschiedenheit; Geschichtsteleologie und theologische Eschatologie kommen an ihr Ende. Religion (in meinen Worten) ist ein kontingenter geschichtlicher Deutungsvollzug; und zwar kontingent sowohl hinsichtlich seiner individuellen Realisierung als auch seiner kulturellen Ausprägung. Hinter diese Ausdifferenzierungssicht auf die Kultur darf eine der Gegenwart angemessene Theologie nicht zurückfallen. Die Philosophie hingegen ist eine neue Theorie eines »tiefergelegten« Rahmens um Kultur und Gesellschaft, die über neukantianische, bewusstseins- und deutungstheoretische Konstruktionen der einzelnen Felder hinausgeht, und zwar im Sinne einer neuen, unkonstruierbaren und sich selbst durchsetzenden Ganzheit.

Der dritte Teil gilt Heideggers Sprachphilosophie im Ausgang von seiner Hölderlin-Interpretation. Sprache ist kein Instrument der Weltbeherrschung, sondern »der Vorgang, der die Dinge anwesend sein lässt« (153). Die Kritik am modernen Denken bedient sich Hölderlins Anrufung der Götter als dichterischer Sage des Seins. Von dieser Erschließung des Seins in der Sprache her (oder dem Offenwerden dafür?) kann Welt, Zeit und Raum, Tod und Leben ganz »anders« (diese Behauptung durchzieht das Buch) und ganz neu gedacht werden. Die politische Abschüssigkeit von Heideggers entsprechendem Heimatbegriff wird zwar kurz genannt (173 Anm. 134, vgl. die Überwindung durch den Europäismus 175), dies hat aber eher salvierende Funktion – denn als Kritik am Transhumanismus lässt H. Heidegger durchaus auch für heute gelten (169). Als Ergebnis hält H. fest: Heidegger »fragt die Theologie nach einem nichtplatonischen, erfahrungsbezogenen Gottesgewahrwerden« (178). Zu einer solchen Kritik muss man allerdings nicht Heidegger singularisieren; die zitierten Forderungen werden in vielen theologischen Richtungen seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts erhoben. So legt Heideggers Seinsphilosophie für H. durchaus einen festen Denkrahmen für die Theologie vor: Sie »überführt diese letztlich in [sic] ihrer Angewiesenheit auf das Seinsgeschehen« (181). Was das heißen soll, bleibt im Nebel: Es geht um ein »ursprüngliches Verhältnis, das zwar nicht mehr nachvollziehbar ist, aber als Möglichkeit für ein anderes Welt- und Seinsverhältnis eine Möglichkeit vorwegnimmt.« (182)

Der vierte Teil referiert Heideggers Suche nach einer alternativen Ursprungsbegründung des philosophischen Denkens anhand seiner Parmenides-Interpretation. Das Geschehenlassen wird auch hier zur Leitfigur. Theologisch wird die anfängliche Seinsgeschichte von der gegenwärtigen Situation modernekritisch abgegrenzt: Was sich den Griechen noch als Lebenswirklichkeit aufdrängte, ist heute nur noch als antitheologische »Leerstelle« (216) zu haben.

Anhand des Humanismusbriefs von 1946 fasst H. im fünften Teil seine Heidegger-Interpretation zusammen. Dabei überträgt er die Struktur von Kritik, Überwindung und Neubegründung auf die Theologie. Diese Anwendung von »Gegenrede« und »Antihumanismus« führt zum Titel »Antitheologie«. Heidegger verstehe Theologie als positive Wissenschaft (der Religion?), über deren Geltung und Codes die Philosophie nicht bestimme. Die Intention von H.s Heidegger-Lektüre ist damit als eine philosophische Rahmentheorie moderner Kulturgebiete zu fassen, die ihrer eigenen Geschichtlichkeit und ihres Evolutionscharakters (Pfadabhängigkeit und Kontingenz) bewusst bleibt. Diese Rahmentheorie greift nur als Fundamentalkritik an denkkonstruktiven Grundlagen auch in die Theologie ein: Die Offenbarungstheologie (mit Trowitzsch 250 Anm. 132) bleibt am Ende die einzige der Gegenwart angemessene Theologie.

Der sechste Teil gilt der frühen Theologie Heinrich Otts. Seine Dissertation 1955, die frühe Eschatologie (1958) und die ausführliche Heidegger-Studie »Denken und Sein« 1959 werden referiert. H. folgt dem bisherigen Vorgehen einer eng am jeweiligen Text bleibenden Darstellung. Der Unterton allerdings wird durch die Kritik bestimmt: Otts theologische Interpretation bleibe an philosophischen Kategorien der Gegenwart orientiert; die transzendentale Konstruktion führe zur Anbindung der Theologie an den Glaubensakt. Das kritische Moment, das aus der Ausrichtung am Sein entstehe, werde damit verspielt. Merkwürdig bleibt, dass in diesem Zug auch Hans Jonas’ Kritik an Heideggers Totalitarismusaffinität referiert wird (295 Anm. 219), ohne auf die doch rückwirkend die eigene Darstellung befragende Berechtigung einzugehen. Es fragt sich sowieso, ob H. hier nicht politisch naiv ist, wenn er für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg eine (234 Anm 76) »neutrale Vermittlung« des politisch in den 30er Jahren Gewollten behauptet.

Der letzte Teil des Buches gilt der Heidegger-Rezeption Jüngels. Ausgangspunkt ist dessen Rezension von Otts Studie. H. zeigt an weiteren frühen Werken, insbesondere der Barth-Paraphrase »Gottes Sein ist im Werden«, dass (auch da, wo es nicht gesagt wird) Jüngels Ideen zur Denkbarkeit Gottes auf dem Boden der Seinsgeschichte stehen. Das kann man diskutieren. Aber die intendierte Verallgemeinerung, dies sei auch Basis für alle »richtige« Theologie, ist abseitig.