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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1221-

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Schulze, Nora Andrea

Titel/Untertitel:

Hans Meiser. Lutheraner – Untertan – Opponent. Eine Biographie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. 635 S., m. 98 Abb. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B, 81. Geb. EUR 99,00. ISBN 9783525516447.

Rezensent:

Walter Sparn

»Eine Biographie über Meiser ist ein Wagnis« (21) – das ist Nora Andrea Schulze klar angesichts polarisierter Debatten seit der missglückten landesbischöflichen Gedenkinitiative 2006, aber auch angesichts der Versuchung der Gattung »Biographie«, die analytische Distanz zum Gegenstand durch Solidarisierung zu schmälern (13–25). Die von H. Oelke betreute Dissertation hat eine Vorgeschichte in C. Nicolaisens Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte, die seit 1996 Person und Werk Meisers kritisch aufarbeitet und 2006 ein differenziertes, ambivalentes Bild entwarf, das die Vfn. seither weiter ergänzt und differenziert hat. Für ihre Dissertation hat sie alle Publikationen Meisers (521–524) und eine Vielzahl gedruckter Quellen aus Meisers Amtszeit und seitherige Darstellungen (525–557) konsultiert, überdies in kirchlichen, staatlichen und privaten Archiven (505–521) sowie durch Auskünfte so viele Materialien erhoben, dass die biographische Kenntnis ein neues Niveau erreicht hat. Dem kann eine Rezension nicht entfernt gerecht werden, weshalb sie viele interessante Details übergehen muss. Hilfreich ist auch die Zusammenfassung (485–501; Zeittafel 501 f.; Personenregister, Biogramme 558–611; Institutionen-, Orts-, Sachregister 612–629, Bildnachweise 631–635). Die erweiterte Quellenkenntnis betrifft zumal Meisers erste Lebenshälfte, in der er wesentliche, die lange Amtstätigkeit für seine Kirche und ihr Verhältnis zum Staat bestimmende Prägungen empfing. Deshalb sei das Kapitel »I. Prägungen (1881–1933)« doch nacherzählt.

Die Vfn. verfolgt Meisers Weg vom gemischt-konfessionellen Elternhaus in Nürnberg, der kirchlichen Sozialisation durch den Großvater und vom konservativen Religionsunterricht im humanistischen Gymnasium über den Studienausflug nach München bzw. das theologische Studium in Erlangen, Berlin und (krisenüberwindend) bei M. Kähler und W. Lütgert in Halle, bis zum (selbstverständlichen) Militärdienst und zum Vikariat in Weiden, Haßfurt und Würzburg, wo Meiser so vertrauensbildend wie erfolgreich agierte und sich in der Abneigung gegen den Katholizismus einrichtete (26–72). Weil die biographischen Daten kirchen- und politikgeschichtlich eingebettet werden, präsentiert die Vfn. das nationalprotestantische und »kirchlich-positive« lutherische Milieu, in dem Meiser aufwuchs. Dessen dogmatische und ethische Basis sah er durch die historisch-kritischen und subjektivistischen »Modernen« (nicht Schleiermacher, aber Strauß bis Harnack und Troeltsch) zerstört; er konnte es sich als »Besitz« aber wieder aneignen. Das zeigen Unterrichtsvorbereitungen und Predigten sehr klar. Eine Synodalarbeit über das »Erbe der Reformation« postuliert, dass dieses als fertig abgeschlossenes Erbe unverkürzt zu erhalten sei. Die Ansprache über die sittlich-religiöse Wiedergeburt Deutschlands nach 1806 bekräftigt, dass die »natürlichen« Ordnungen der ständischen, durch Autorität und Gehorsam geordneten Gesellschaft unveränderliche Stiftungen Gottes sind (57–63). Dienstzeugnisse rühmen Meisers Festhalten an den »biblischen Geschichtstatsachen«, seine jeglicher Union abholde konfessionelle Loyalität und seine organisatorischen und integrativen Fähigkeiten für den Gemeindeaufbau, die Jugend- und Vereinsarbeit sowie die Publizistik. Meisers »Partnerwahl« (72–75) band an seine »ernste Gereiftheit« (H. Bezzel) eine lebenslustige, im Unterschied zu Meiser mehrsprachige Frau, die sich der geltenden Rollenzuweisung für Pfarrfrauen jedoch fügte. Meisers lebenslange Ablehnung der Gleichstellungsforderungen der Frauenbewegung im Blick auf die Ausübung von Autorität sieht die Vfn. in einem »theologisch überhöhten biologistischen Geschlechterverständnis« (73) wurzeln. Für Meisers Ehe (vier Kinder) führt sie nur die Einschätzung des interviewten jüngsten Sohnes an, sie sei glücklich gewesen; der Rezensent hätte sich gefreut, wenn eines der Fotos den lächelnden Meiser dokumentieren würde.

Auch für Meisers weitere Amtsführung belegen die folgenden Kapitel die fraglos normative Bedeutung von »Bekenntnis und Ordnung« der Kirche, ohne dass Meiser diese Formel inhaltlich genau bestimmt hätte, und der Ordnungstheologie und Obrigkeitslehre der »Erlanger Schule«. Allerdings benennt die Vfn. deren Neuluthertum nur pauschal und unterstellt es vor allem ethisch-politisch als einheitliche Größe; auch die Bedeutung W. Löhes für Meiser, dem es um die Freiheit der Kirche noch mehr ging als um die Loyalität zum Staat, ist wohl zu gering veranschlagt. »II. Positionierungen (1911–1933)« umfasst Meisers Karriere seit der Ernennung zum Geistlichen des Landesvereins für Innere Mission, die Meiser im Gefolge Wicherns und mit dem Ziel der Rechristianisierung der Gesellschaft betrieb (76–86). Als frustrierter Lazarettgeistlicher und hochgeschätzter Gemeindepfarrer seit 1915 in München (86–112) sah er den Krieg mit seinen Schrecken als gottgegebene Chance für missionarisches Wirken, auch am Feind. Dass Meiser mit Nationalpathos die kaiserliche Kriegspolitik unterstützte, grundsätzlich aber den Ewigkeitswert des Nationalen negierte, lässt eine Ambivalenz erkennen, die die Vfn. zwiespältig oder widersprüchlich nennt. Sie kennzeichnet Meisers Verhalten auch gegenüber der durch das »sittliche Unrecht« einer Revolution etablierten Staatsordnung (zur Verhaftung durch die Räterepublik 102–106). Er enthielt sich jeder öffentlichen Kritik und riet z. B. im Blick auf das Schulfach Religion zu taktischem Verhalten, um Schaden von der Kirche abzuwenden. Mit taktischem Geschick und hoher Integrationskraft, auch immer besser vernetzt, agierte Meiser auch bei der Neuordnung der Kirche in lutherischer Bekenntnisbildung, erfolgreich bei Wahlrecht (Frauen!) und beim Kirchenpräsidenten (oberhirtliche Vollmacht!). Die Dienstbeurteilung »klug und klar, gläubig und geschickt« zeigt, wieso Meiser 1922 zum Direktor des neuen Predigerseminars in Nürnberg berufen wurde, für das er zugleich autoritär und persönlich zugewandt den Betrieb, die Studienordnung und eine »geschlossene Lebensgemeinschaft« aufbaute (112–121). In der Annahme, dass die Stunde der Kirche gekommen sei, etablierte Meiser das kirchliche Archiv, förderte die Publizistik und beteiligte sich bei der Gründung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) und des Lutherischen Weltkonvents. Die Ambivalenz im Verhalten Meisers arbeitet die Vfn. besonders in den Artikeln zur »Judenfrage« von 1926 heraus. Meiser stellte sich gegen »Rassenmaterialismus« und forderte freundlichen Umgang mit Juden, hielt aber zugleich am stereotypen christlichen Antijudaismus fest, ergänzt um die Pflicht zur Treue zum eigenen Volk, und verknüpfte die Ablehnung von Mischehen mir der Forderung von Judenmission. Mangelnde Sensibilität gegenüber der NS-Rassenpolitik und ihren Opfern war die Folge (131–142). Seit 1928 Oberkirchenrat, distanzierte sich Meiser überdies von der nicht im Christentum fundierten Weimarer Republik und erwartete von den Gemeindegliedern, ihrem moralischen Verfall zu widerstehen, ohne aber politischen Widerstand zu leisten (143–156).

Die Vfn. meint, dass es neben der absoluten Loyalität zu Bekenntnis und Ordnung der Landeskirche auch die Signale der Offenheit für Gespräche mit der NSDAP und Erwartungen an die christlichen Kräfte in ihr Voraussetzungen dafür waren, dass Meiser 1933 die Führung der Landeskirche (und ihrer sich selbst entmächtigenden Synode) als Bischof übertragen wurde. »III. Entscheidungen (1933–1945)« zeichnet den dramatischen »Kirchenkampf« 1933/4, in dem auch Meiser schwere Fehler unterliefen, der dem Führer gegenüber aber doch nicht endgültig »einknickte« (171 f., nochmals 311 f.). Die Vfn. stellt ihn in den Kontext der Bejahung des NS-Staates einerseits und der Entscheidung für die Bekennende Kirche (BK) andererseits (156–190). Die bessere Beleuchtung der bekannten Daten aufgrund archivalischer Befunde ist hier die besondere Leistung der Vfn., vor allem im Abschnitt über die »Gratwanderung« Meisers zwischen aktiver und erlittener Staatsloyalität (Treueid bzw. Abriss Matthäuskirche), dem Umgang mit Abweichlern (K. Steinbauer, W. Hildmann, W. von Pechmann), den offenen Kampfansagen an die Deutschen Christen (über deren »Theologie« die Vfn. mehr hätte mitteilen dürfen) und den »Protesten« gegen staatliche Eingriffe in die verfasste Kirche und antichristliche Propaganda (190–245). Im Blick auf die NS-Rassenpolitik kontrastiert die Vfn. Meisers öffentliches Schweigen zur Judenverfolgung und seine Abweisung des Arierparagraphen nur (!) für die Kirche mit dem fallweise persönlichen Einsatz für rassisch verfolgte Amtsträger und der organisierten Hilfe für rassisch verfolgte Christen (245–264). Im Krieg zog sich Meiser noch weiter in die Defensive zurück, d. h. in die Verantwortung nur für die Kirche und ihre Pfarrer, deren Christenpflicht zum Kriegsdienst nach wie vor außer Frage stand. Die Vfn. stellt fest, dass seine Hilfen den Rahmen des jeweils staatlich Erlaubten nicht überschritten, bei Eingaben Th. Wurm und Laien den Vortritt ließen und öffentlichen Protest auch angesichts der Ermordung von Behinderten und der Judenvernichtung weiterhin unterließen. Sein Protest gegen die Behandlung der Württ. Bibelanstalt (1943) spielte das Alte Testament gegen (!) die Juden aus; noch 1944 konnte ein antisemitischer Schulungsbrief unter seinem Namen als Berufshilfe versandt werden, was H. Sasse als »zutiefst beschämend« kritisierte (294–304).

Im Teilkapitel über gesamtkirchliche Ämter und Funktionen (304–357) tritt die Ambivalenz Meisers erneut zutage. Die Vfn. meint, dass Meiser mit seinem neulutherischen Bekenntnisbegriff die treibende Kraft bei der Entstehung der BK war, mit seiner »Unions-phobie« aber auch deren Spaltung mitverursachte. Während des Kriegs beteiligte er sich am gesamtprotestantischen Einigungswerk Th. Wurms nur unter der Voraussetzung, dass die Barmer theologische Erklärung nicht als Bekenntnis einer Unionskirche zu lesen sei; auch einen Ökumenischen Rat der Kirche konnte er sich nur strikt föderativ vorstellen. Umso energischer arbeitete er für die Einheit der lutherischen Kirchen in Deutschland, jedoch trotz Lutherrat und Lutherischem Pakt (seit 1935) erfolglos; die Trennung vom bruderrätlichen Flügel der BK und die Konfrontation mit M. Niemöller wurde nicht beendet. Die Vfn. hätte sagen können, dass Meisers »Fixierung auf das historische lutherische Bekenntnis« eine Fixierung auf den kirchenrechtlichen Bekenntnisstand (status confessionis) war, die den Zusammenhang mit dem aktuellen Bekennen (confessio) z. B. in Barmen, wo Meiser ja selbst positiv votiert hatte, nicht mehr herzustellen vermochte.

Die »Ära Meiser« trägt den wohl ein wenig starken Titel »IV. Weichenstellungen (1945–1955/56)«, denn Meiser gab seine außerordentlichen Vollmachten zurück, setzte aber sein »autoritäres« Regiment fort. Im Blick zurück schwankte er zwischen Schuldbekenntnissen und einer Geschichtsapologetik, die keine Veränderung seines Bildes des Judentums als einer überwundenen Religion erkennen ließ, trotz einer Einladung zur Einweihung der Münchner Synagoge und trotz der Neuorientierung der Akademie Tutzing (ebenso wie die Augustana-Hochschule von ihm gegründet). Mit seinem Einsatz für ehemalige Nationalsozialisten, der das Engagement für überlebende NS-Opfer deutlich übertraf, war Meiser nicht alleine; gegen die Entnazifizierung koalierte er erstmals sogar mit Kardinal Faulhaber. Sein Verhältnis zu den politischen Kräften der parlamentarischen Demokratie, die ihn wegen seiner Mühe um die Versorgung und Integration der Vertriebenen schätzten, blieb das der freien aber loyalen Kirche zur gottgesetzten Obrigkeit (358–419; das Schlagwort »Untertan« ist in einem nicht pejorativen Sinn korrekt). Für Meisers Mitgestaltung des Nachkriegsprotestantismus hebt die Vfn. trennscharf heraus die »zweischneidige« Arbeit für und mit der EKD als Gemeinschaft konfessionsverschiedener Kirchen in der Abwehr ekklesialer Ambitionen und die unzweideutige Vereinigung der lutherischen Kirchen auf der Basis des Bekenntnisses, »das der Wahrheit am nächsten kommt«. Auch Meisers Engagement im ÖRK folgte stets dieser konfessionellen Maßgabe (421–451).

Von besonderem Interesse ist das abschließende Kapitel »Wertungen«, das die Wahrnehmung von Meisers Person und Werk in die Abfolge von »Verehrung, kritische Aufarbeitung, Demontage« bringt (452–484). Die Vfn. zeigt, wo und wie die Kritik an Meiser zu wenig differenziert und kontextualisiert argumentierte, unbegründet oder falsch behauptete und mit dem Entlarvungsgestus imponierte. Das hält wohl nicht wenigen Lesern den Spiegel vor, auch passiv Beteiligten wie dem Rezensenten. Auch für sie gilt, was die Vfn. von den Debatten zu Straßenumbenennungen sagt: in historischer Projektion dienten erinnerungskulturelle Entscheidungen der Vergewisserung der eigenen Wertorientierung. Die Vfn. hat die jetzt mögliche wissenschaftliche Gesamtwürdigung Meisers geliefert, die im Vorwort des oben genannten Bandes von 2006 noch vermisst wurde, und hat die nach keiner Seite auflösbare Ambivalenz Meisers, die seinerzeit vermutet wurde, in eine einstweilen plausible Feststellung überführt. Wenn es stimmt, dass die Werte, für die Meiser einst verehrt wurde, gesellschaftlich und teils sogar kirchlich obsolet geworden sind (483 f.), dann ist klar, dass Person und Werk Meisers im Ganzen einer vergangenen Zeit angehören und sich für eine historiographisch bzw. erinnerungskulturell projizierte Legitimation gegenwärtiger Interessen nicht eignen – was Lernprozesse auf beiden Seiten seiner Ambivalenz aber keineswegs ausschließt.