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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1216-1218

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Cremonese, Donata

Titel/Untertitel:

Zwischen Verkündigung und Fürsorge. Evangelische Kinderheimarbeit in Mecklenburg im Kontext politischer Neuordnung zwischen 1945 und 1966.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 268 S. = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 59. Geb. EUR 78,00. ISBN 9783374072736.

Rezensent:

Andreas Flade

Als im Jahr 2012 sowohl der »Fonds Heimerziehung in der BRD in den Jahren 1949 bis 1975« wie auch der »Fonds Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990« eingerichtet wurden, beteiligten sich EKD, Diakonisches Werk, Katholische Kirche und Caritas zwar an dem »Fonds Heimerziehung in der BRD«, nicht aber an dem »Fonds Heimerziehung in der DDR«. Man ging davon aus, dass das Thema die Kirchen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR kaum oder gar nicht betreffen werde. Die östlichen Gliedkirchen der EKD teilten diese Annahme.

In Mecklenburg löste die Anfrage wegen des Fonds Heimerziehung allerdings ein Forschungsprojekt von Landeskirche (ab 2012 Kirchenkreis Mecklenburg der Nordkirche) und Theologischer Fakultät Rostock aus. Es sollte in Erfahrung gebracht werden, was zu ehemaligen Kinderheimen in Mecklenburg an Informationen noch vorhanden sei. Aus diesem Forschungsprojekt heraus ist die Dissertation von Donata Cremonese entstanden, die kürzlich unter dem Titel »Zwischen Verkündigung und Fürsorge« erschienen ist (Dissertation im Fach Kirchengeschichte bei Heinrich Holze, Rostock). C. hat mit ihrem Werk Pionierarbeit geleistet. Es gibt bisher keine entsprechende Darstellung der Geschichte evangelischer Kinderheime nach 1945 auf dem Boden der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der späteren DDR. Studien zur Heimerziehung in der damaligen BRD wie die von Frings/Kaminisky »Gehorsam – Ordnung – Religion. Konfessionelle Heimerziehung 1945–1970« (Münster 2012) blicken ausschließlich auf die Situation im Westen; Studien zur Heimerziehung in der DDR wiederum beziehen die kirchliche Heimerziehung nicht mit ein (z. B. »Fonds Heimerziehung [Hrsg.], Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR – Expertisen«, Berlin 2012).

Insofern beginnt C.s Arbeit eine Lücke zu füllen. Sie gewinnt ihre Ergebnisse vorrangig aus Archivmaterialien. Beeindruckend ist die Liste der Akten, die herangezogen wurden. Schriftverkehr, Sitzungsprotokolle, Vermerke und Notizen aus sehr unterschiedlichen und teilweise noch nicht aufgearbeiteten Beständen wurden umfangreich ausgewertet. Dabei ergibt sich von vornherein eine Einschränkung, die die gegenwärtige Fragestellung nach Unrecht in den Heimen unbeantwortet lassen muss: »Die Erfahrungen Betroffener der evangelischen Heimerziehung in Mecklenburg wie auch die Frage nach religiösen Begründungsmustern für repressive Erziehungs- und Strafmethoden können auf Basis der Quellenlage nicht beantwortet werden.« (14)

Nach einer Einleitung (Kap.1) stellt C. zunächst die Entstehungsgeschichte evangelischer Kinderheime in Mecklenburg seit dem 19. Jh. dar (Kap. 2). In Rostock-Gehlsdorf entsteht 1845 der spätere Michaelshof als Rettungshaus für »verwahrloste Knaben« nach Vorbild des Rauhen Hauses in Hamburg und in enger Beziehung zu ihm. Anfang des 20. Jh.s folgen acht weitere Kinderheime.

In drei großen Kapiteln behandelt C. dann ihr eigentliches Thema, die Zeit nach dem 2. Weltkrieg – zuerst unter unmittelbarer sowjetischer Besatzung (Kap. 3), dann unter den Bedingungen der DDR in ihren Anfangsjahren (Kap. 4) und schließlich unter den Bedingungen der Durchsetzung der DDR-Bildungspolitik (Kap. 5).

Das 3. Kapitel reflektiert die Neuordnungen in Kirche und Diakonie nach dem Krieg (55 ff.). Skizziert wird auch die Arbeitsweise der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) und »die mangelnde Durchsetzungskraft der Landesverwaltung gegenüber nachgeordneten Stellen« (65), die den Landräten und Bürgermeistern Handlungsspielräume eröffneten. Mecklenburg war vom größten Flüchtlingsstrom in Deutschland betroffen und damit auch »von einem Kinderelend größten Ausmaßes« (80). Notdürftig wurden neue Heime eingerichtet, so dass es bereits 1947 in Mecklenburg 121 Kinderheime gab – gegenüber 40 im Jahr 1945. »In dieser Situation entstanden sieben kirchliche (Heim-)Neugründungen von Pastoren der Mecklenburgischen Landeskirche.« (81)

Die Verfasserin stellt detailliert die recht unterschiedliche Geschichte und Situation jedes der evangelischen Heime dar. Soweit ihnen Kinder staatlicherseits zugewiesen wurden, erhielten sie die üblichen Kostensätze, waren aber ansonsten auf Spenden angewiesen. Normative pädagogische Konzepte gab es nicht. Der Familiengedanke mit kleinen Gruppen nach Wichernschem Vorbild scheint lebendig gewesen zu sein. Eine Tagesstruktur mit Andachten, Tischgebeten, Sonntagsgottesdienst und Feier der christlichen Feste haben wohl alle evangelischen Heime gehabt. Ansonsten herrschte Vielfalt.

Die Vielfalt und die christliche Ausrichtung der evangelischen Heime stand allerdings schon früh in Spannung zu den staatlichen Vorgaben für die Heimerziehung als Gemeinschaftserziehung im Sinne Makarenkos mit dem Ziel der »allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit« (76). In den 50er Jahren bekommen dann die »evangelischen Kinderheime im Kontext des Programms zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus« (Überschrift zu Kap. 4) verstärkt Eingriffe in ihre Arbeit durch staatliche Stellen zu spüren, die manchmal existenzgefährdend waren. Allmählich wurde immer deutlicher, dass kirchliche Heime für Kinder und Jugendliche im bildungsfähigen Alter unter den Bedingungen der DDR keine gesicherte Perspektive mehr haben würden.

Im Zuge der »Zentralisierung des Bildungswesens« in der DDR (Kap. 5) im Laufe der 50er und Anfang der 60iger Jahre standen alle evangelischen Kinderheime vor der grundlegenden Entscheidung, entweder »die Erziehungsarbeit einzustellen und die Heime zu schließen oder die Zielsetzung ihrer Arbeit zu ändern und sich fürsorgerisch … auf die Arbeit mit sogenannten bildungsunfähigen Kindern und Jugendlichen« einzustellen (195). Für solche Kinder und Jugendliche bestand großer Unterbringungsbedarf, auch weil die Leistungsorientierung des Volksbildungswesens der DDR »frühzeitig damit [begann], sogenannte bildungsunfähige Kinder auszugliedern, die den Ansprüchen der sozialistischen Gesellschaft nicht gerecht werden konnten« (200).

Der Weg von evangelischen Erziehungsheimen zu Heimen für Menschen mit Behinderungen war lange durchaus umstritten (234). Aber die Frage nach dem Wesen der Diakonie musste unter den stark gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen anders beantwortet werden als bisher. Nach und nach nahmen alle evangelischen Kinderheime entweder eine Umprofilierung zu Heimen für Menschen mit Behinderung vor, oder sie schlossen, wenn sie diesen Weg nicht gehen konnten oder wollten.

C. hat mit ihrer Arbeit ein fast vergessenes Gebiet diakonischen Wirkens nach 1945 neu in Erinnerung gerufen, zugänglich gemacht und es zugleich für Mecklenburg umfassend, detailliert und differenziert dargestellt. Sie ordnet die einzelnen Vorgänge in die damaligen gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Verhältnisse ein, so dass auch ein vielschichtiges Bild der Zeitgeschichte entsteht. Innerkirchliche Debatten um den richtigen Weg und das Ringen um Entscheidungen werden genauso sichtbar wie das Vorgehen einer Staatsmacht, deren ideologischer Anspruch umfassend war, den sie aber erst allmählich stärker durchzusetzen vermochte. Zugleich ist das Buch eine Fundgrube zur Geschichte der einzelnen Heime.

Da vieles in der Arbeit vor allem aus Quellenmaterial (Akten) erschlossen werden musste und dieses zunächst zu ordnen und zu bewerten war, ist umso höher zu bewerten, dass nun ein aufschlussreiches, übersichtlich gegliedertes und gut lesbares Buch vorliegt.