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Ausgabe:

Dezember/2023

Spalte:

1205-1207

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Buchinger, Harald, u. Clemens Leonhard (Hgg.)

Titel/Untertitel:

Liturgische Bibelrezeption/Liturgical Reception of the Bible. Dimensionen und Perspektiven interdisziplinärer Forschung/Dimensions and Perspectives of Interdisciplinary Research.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. 515 S. m. 25 s/w Abb. u. zahlr. Tab. Geb. EUR 90,00. ISBN 9783525567296.

Rezensent:

Stefan Schweyer

Im Rahmen des groß angelegten Projekts Novum Testamentum Patristicum, das in einem Kommentarwerk die Rezeption des Neuen Testaments in der spätantiken christlichen Literatur dokumentiert, werden seit 2007 internationale Konferenzen durchgeführt, so auch vom 22. bis 25. September 2015 im Haus Werdenfels bei Regensburg zum Thema »Liturgische Bibelrezeption«. Sieben Jahre später wurden die Beiträge nun in Buchform zugänglich gemacht. Dass es auch schneller gehen könnte, wird etwa daran erkennbar, dass der Konferenzband der Folgekonferenz 2018 zum Thema »Early Christian Commentators of the New Testament« bereits 2021, also noch vor dem hier zu besprechenden Konferenzband, erschien.

Die Thematik, der sich die Konferenz widmete, ist für die Frage der Bibelrezeption zweifellos zentral. Die Einsicht, dass sich der Gottesdienst der Kirche als Resonanz- und Performanzraum der Bibel verstehen lässt (vgl. z. B. David Plüss, Gottesdienst als Text-inszenierung, 2007; Etzelmüller, »… zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn«. Eine biblische Theologie der christlichen Liturgiefamilien, 2010), ist auch für die historische Erforschung der Bibelrezeption und der Liturgiegeschichte bedeutsam. Das gilt umso mehr für Zeiten, in denen die Herstellung der Bibel aufwändig, deren Verfügbarkeit gering und die Analphabetismusrate verhältnismäßig hoch war, so dass den Gläubigen überhaupt erst durch den Gottesdienst ein Zugang zur Bibel eröffnet wurde.

Die vorliegende Rezension präsentiert zuerst eine kurze Übersicht über den Aufbau und die Einzelbeiträge des Konferenzbandes, bevor einige übergeordnete Beobachtungen benannt werden.

Nach einer Einleitung der Herausgeber (9–12) werden in einem ersten Teil grundsätzliche Fragen (»Fundamental Questions«, 13–66) zum »Verhältnis von Gottesdienst und der Kanonisierung neutestamentlicher Schriften« behandelt. Barbara Aland (15–38) skizziert, wie sich das Verständnis der neutestamentlichen Texte als Heilige Schrift herausgebildet hat. Nach Tobias Nicklas (39–56) lässt sich dabei ein innerer Zusammenhang zwischen der Verwendung neutestamentlicher Schriften im öffentlichen Gottesdienst und der Anerkennung ihrer autoritativen und kanonischen Geltung feststellen. Clemens Leonhard verbindet die These der Priorität des Marcion-Evangeliums mit der liturgischen Sonntags- bzw. Osterpraxis (57–66).

Die weiteren Beiträge sind nach liturgischen Kernvollzügen geordnet. Sechs Beiträge widmen sich den gottesdienstlichen Lesungen (»Readings«, 67–262): Johan Leemans und Hajnalka Tames analysieren in ausgewählten Predigten die expliziten und impliziten Hinweise auf liturgische Lesungen (69–84). Die Entwicklung von Leseordnungen setzt dabei die Festlegung des liturgischen Jahres voraus (Harald Buchinger, 85–118). Daniel Galadza (»From Pascha to Pentecost in the Constantinopolitan, Jerusalem, and Byzantine Lectionaries«, 119–152), Gerard Rouwhorst (»The Liturgical Reading of the Bible in the Syriac Churches«, 153–168), Emmanuel Fritsch (»Exploring an Ethiopian Lectionary«, 169–212) und Andrew J. M. Irving (»Latin Manuscripts Containing the Gospels«, 213–264) präsentieren detaillierte Analysen zu Lektionaren in unterschiedlichen Kontexten.

Die Beiträge des nächsten Teils untersuchen, wie biblische Texte in gottesdienstlichen Liedern (»Chants«, 263–392) aufgenommen und verarbeitet werden und zwar in Jerusalem (Peter Jeffery, 265–290), in byzantinischen Gesängen zu Mariä Verkündigung (Fr Damaskinos of Xenophontos, 291–312), im gregorianischen Choral (Andreas Pfisterer, 313–330), in der lateinischen Hymnodie (331–354) und in der mozarabischen Gründonnerstag-Liturgie (Emma Hornby/Rebecca Maloy, 355–392).

Die Rezeption der Bibel in den Gebeten (»Prayers«, 393–467) wird in vier Beiträgen untersucht: in der römischen Gebetstradition (Dominic E. Serra, 395–410), in der byzantinischen Liturgie (Ste-fanos Alexopoulos, 411–429), in äthiopischen Anaphoren (Reinhard Meßner, 429–448) und in der melkitischen Tradition (Martin Lüs-traeten, 449–466).

Schließlich werden zwei Rituale (»Rituals«, 467–502) analysiert, die Eheschließung in der frühchristlichen Zeit (David G. Hunter, 469–480) sowie die Fußwaschung im spätantiken Gallien (Lizette Larson-Miller, 481–502).

Der Beitrag von Martin Meiser zum Verhältnis von Liturgie und patristischer Exegese (505–515) wird als Nachwort (»Afterword«, 503) angekündigt, stellt aber faktisch einen eigenen Forschungsbeitrag zu textkritischen und hermeneutischen Fragen anhand ausgewählter liturgischer Quellen dar.

Einige Beobachtungen, die sich aus der Gesamtlektüre ergeben, sollen hier genannt werden:

1. Die Besonderheit des vorliegenden Konferenzbandes besteht darin, dass neutestamentlich-exegetische, patristische und liturgiewissenschaftliche Stimmen aus unterschiedlichen kirchlichen Traditionen zu Wort kommen. Das verleiht dem Band einen interdisziplinären und internationalen Charakter. Dennoch fällt auf, dass die Beiträge relativ unverbunden nebeneinanderstehen. Das interdisziplinäre Gespräch, das an der Tagung mit Sicherheit stattfand, wird im Band kaum abgebildet. Auch eine Bündelung der Beiträge, die den Gesamtertrag der Tagung erkennbar machen könnte, fehlt.

2. Die Einzelbeiträge zeichnen sich durch historisch akribische Detailforschung aus. Lesende erhalten damit Zugang zu genauen Einzelanalysen. In einigen Beiträgen werden Quellen aufgelistet (z. B. Manuskripte mit lateinischen Evangelientexten 300–810 n. Chr., 244 ff.) und zugänglich gemacht (z. B. das äthiopische Lektionar IES 695, 170 ff.; Abbildungen und Texte aus der mozarabischen Tradition, 368 ff.; melkitische Texte zur Fußwaschung, 454 ff.) oder tabellarische Übersichten geboten (z. B. zu armenischen und georgischen Lektionaren, 110 ff.; zu Lektionaren von Jerusalem und Konstantinopel, 142 ff.; zum Tenebrae factae sunt in verschiedenen Traditionen, 271). Solche und viele weitere präzise Detailerkenntnisse bieten eine Fundgrube für die weitere Fachdiskussion.

3. Im Vergleich zur historischen Perspektive fällt die theologische Diskussion eher knapp aus. So werden etwa bibeltheologische Fragen (wie beispielsweise nach der Inspiration der Schriften des Neuen Testaments) oder liturgietheologische Fragen (wie beispielsweise nach dem Liturgieverständnis) nur am Rande gestellt. Die bibel- und liturgietheologische Relevanz der Forschungsergebnisse lässt sich wohl hie und da erahnen, dennoch wäre eine intensivere theologische Orientierung gerade bei dieser Thematik besonders vielversprechend, zumal sie auch eine Verbindung mit den gegenwärtigen liturgiepraktischen Fragen und Herausforderungen ermöglichen würde.

4. Innerhalb der übergeordneten Thematik der liturgischen Bibelrezeption zeigen sich zwei sehr unterschiedliche Fragerichtungen, je nachdem, ob man sich mit dem Zeitraum während oder nach der Kanonisierung des Neuen Testaments beschäftigt. Die Beiträge im ersten Teil (»Fundamental Questions«, 13–66) widmen sich dem früheren Zeitraum. Sie implizieren daher eine Kontrastierung des alttestamentlichen Kanons mit dem sich erst herausbildenden neutestamentlichen Kanon und fokussieren ausschließlich diejenigen Texte, die für die Kanonisierung des Neuen Testaments als bedeutsam angesehen werden. Der alttestamentliche Kanon bzw. dessen liturgische Rezeption spielt in diesen Beiträgen keine erkennbare Rolle. Alle anderen Beiträge behandeln einen späteren Zeitraum, gehen von einem feststehenden neutestamentlichen Kanon aus und arbeiten nicht mit einer prinzipiellen Differenz hinsichtlich der Kanonizität von alt- oder neutestamentlichen Texten, sondern reflektieren die liturgische Rezeption der gesamten Bibel, also auch des Alten Testaments. Für den Band wäre es aus Sicht des Rezensenten sinnvoll gewesen, diese grundlegend unterschiedlichen Fragerichtungen deutlicher herauszustellen und vertieft zu diskutieren.

5. Ein so umfangreicher Konferenzband mit so vielfältigen Beiträgen aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen und Kontexten könnte durch Namens-, Sach- und Bibelstellenregister noch viel besser erschlossen werden. Kaum nachvollziehbar ist, weshalb der Band kein Autorenverzeichnis enthält, welches über die Expertisen und Wirkungsorte der Beitragenden übersichtlich informiert.

Die genannten Beobachtungen lassen erahnen, dass aus Sicht des Rezensenten der Konferenzband zwar beachtliche Forschungsbeiträge bietet, aber dennoch die Erwartungen, die mit der Thematik der liturgischen Bibelrezeption verbunden sind, nicht ganz zu erfüllen vermag. Eine über die spezifische Fachdiskussion her-ausreichende breitere Leserschaft wird damit kaum angesprochen werden können. Personen jedoch, die zur christlichen Spätantike forschen, finden manche wertvollen Puzzlesteine, die zu weiterem Forschen anregen – was sicher der Intention der Herausgeber entspricht.