Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1140–1142

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rojas, Hernán

Titel/Untertitel:

»Wohin, Herr, willst du mich bringen?« Eine Theologie der Berufung im Gespräch mit Karl Rahner.

Verlag:

Innsbruck – Wien: Tyrolia Verlag 2022. 540 S. = Innsbrucker theologische Studien, 100. Kart. EUR 49. ISBN 9783702240363.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Ich möchte mit einigen Überlegungen aus protestantischer Perspektive beginnen. Das Thema des Buches wird im Raum der evangelischen Theologie, wenn überhaupt, nur selten behandelt. Die Reformation führte zu einer Demokratisierung des Berufungsverständnisses: Jedermann und jedefrau war von Gott dazu berufen, in Familie und Beruf zum Wohl des Nächsten zu wirken. Besonderen Berufungen gegenüber – für das Ordensleben etwa – war man skeptisch bzw. lehnte sie überhaupt ab. Erst im Rahmen des älteren Pietismus kam es, besonders im Rahmen der beginnenden pro- testantischen Weltmission, zu einer Wiederentdeckung besonderer Berufungen. Für den vollzeitlichen Dienst im Pfarrberuf wurde eine vocatio interna erwartet. Aber dies alles blieb im Mainstream von Theologie und Kirche nicht unumstritten. Erst im 19. Jh. setzte sich der Berufungsgedanke im Zusammenhang mit der Entstehung der Mutterhausdiakonie in einem größeren Maßstab im Bereich der evangelischen Kirche durch.

Anders im Raum der römisch-katholischen Kirche. Nur wenig zeitversetzt zur Reformation entwickelte Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, mit seinen Exerzitien, deren Grundlage das von ihm verfasste Exerzitienbuch bildete, eine Methode, um Berufungsgewissheit zu erlangen. Nicht zuletzt aufgrund der Wichtigkeit des Jesuitenordens setzte sich die Spiritualität der Exerzitien in der Folgezeit im gesamten Katholizismus durch. Die Exerzitien können bis heute als dessen spirituelles Kraftreservoir für Ordensangehörige und Laien gleichermaßen betrachtet werden. Es gibt kaum ein aktives Mitglied in der katholischen Kirche, das nicht wenigstens einmal im Jahr in einem Kloster oder Einkehrhaus Einzel- oder Gruppenexerzitien absolviert.

Es ist von daher kein Wunder, dass der Autor Hernán Rojas als Mitglied der Gesellschaft Jesu in seiner Dissertation das Thema Berufung aufgegriffen hat. R. wurde 1983 in Chile geboren und trat 2005 in den Jesuitenorden ein. Mit der vorliegenden Studie wurde er 2020 an der Universität Innsbruck promoviert. In seiner Arbeit untersucht er das Phänomen der Berufung in systematisch-theologischer und biblischer Perspektive. Grund für die Aktualität der Fragestellung ist, wie er zu Recht feststellt, die Beobachtung, dass Berufung in einer zunehmend säkularen Welt als Fremdbestimmung in Frage gestellt wird. Demgegenüber will R. aufzeigen, dass Berufung nicht nur eine grundlegende Kategorie biblischen Denkens darstellt, sondern sich als Schlüssel zum Verständnis von Menschsein überhaupt eignet.

Das Buch ist in vier ungleich lange Hauptkapitel untergliedert, denen Vorwort und Einleitung und ein ausführliches Literaturverzeichnis und Personenregister nachgestellt sind. Im ersten Kapitel geht R. der Notwendigkeit einer Berufungstheologie nach. Dazu fragt er in einem ersten Unterkapitel zunächst nach der systematisch-theologischen Bedeutung von Berufungszeugnissen und exemplifiziert diese im Anschluss an vier bzw. fünf exemplarischen Berufungszeugnissen von Mary Ward (1585–1645), Clotario Blest (1899–1990), Ute Bock (1942–2018) und dem Ehepaar Lorena Cornejo (*1959) und Benito Baranda (*1959). Die ausgewählten Personen sind alle auf eine bestimmte Weise mit der persönlichen Biografie des Autors verbunden. Zumindest im deutschsprachigen Raum sind sie allerdings zum Teil nur wenig bekannt. In einem zwei- ten Unterkapitel werden heutige Infragestellungen von Berufung thematisiert. R. verweist dabei u. a. auf Berufung als Bedrohung der Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen, auf das Problem lebenslänglicher Bindungen in einer sich permanent wandelnden Gesellschaft, auf die Spannung zwischen Authentizität und Gehorsam, auf das Verhältnis von persönlicher Berufung und Zugehörigkeit zur Kirche und auf die Bedeutung des Kreuzes Jesu Christi im Hinblick auf Berufung.

Im zweiten Kapitel werden »Orte der Berufung« untersucht (wobei der Begriff »Orte« die Sache nicht ganz trifft). In drei Unterkapiteln geht es um die biblischen Aussagen zu Berufung, um den Stellenwert von Berufung in den Exerzitien des Ignatius von Loyola und um nachkonziliare Ansätze zum Thema Berufung (Hans Urs von Balthasar, Edward Hahnenberg, die Verlautbarung der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz Aparecida von 2007 und Christoph Theobald).

Das dritte Kapitel bildet – entsprechend dem Untertitel des Buches »Eine Theologie der Berufung im Gespräch mit Karl Rahner« – vom inhaltlichen Gewicht und von der Länge her das Zentrum der Arbeit. R. untersucht darin das Thema Berufung bei Karl Rahner. Nach einer Einführung in dessen Werk wird zunächst ein erster Blick auf Rahners Berufungsverständnis geworfen. In den folgenden Unterkapiteln wird dieses dann unter verschiedenen Perspektiven näher profiliert: einer anthropologischen, einer eschatologischen, einer ekklesiologischen und der Frage nach der Unterscheidung der Geister. Das abschließende, vierte Kapitel des Buches stellt eine Art Resümee dar. R. zeigt, dass Berufung als Heilsgeschichte in biografischer Konkretion verstanden werden kann. Dazu entwirft er in einem ersten Unterkapitel zunächst systematisch-theologische Perspektiven von Berufung, wobei diese als Gesamtinterpretation menschlicher Existenz verstanden wird. Neben individuell-persönlichen Aspek-ten (z. B. die je unterschiedliche und eigene Weise der Berufung) wird hier auch die Bedeutung der Gemeinschaft (bzw. der Kirche) für die Berufung thematisiert. Im die Arbeit abschließenden zweiten Unterkapitel fragt R. nach den Möglichkeiten, von Berufung in sich wandelnden Zeiten zu sprechen. Soweit zum Gang der Untersuchung.

R. kommt im Hinblick auf Rahner zu dem Ergebnis, dass Berufung für diesen zwar nicht fremd war, aber kein zentrales Konzept in seinem Werk darstellte. Gleichzeitig kann er zeigen, dass Rahners theologische Überlegungen helfen können, Berufung heute besser zu verstehen. Wichtig ist etwa seine Erkenntnis, dass der Ruf Gottes die menschliche Freiheit nicht überrumpelt bzw. einschränkt. Vielmehr ist die Verwirklichung der Berufung eines Menschen gleichzeitig Tat der Gnade (Gottes) und der Freiheit (des Menschen). Die Berufung gewinnt für jeden Menschen eine eigene und besondere Gestalt. Jeder Christ muss nach Rahner seine eigene Form der Christusnachfolge finden. Entscheidend ist für ihn, Berufung als Identitätsfindung zu verstehen.

Im Schlusskapitel des Buches wird eine Reihe von Themen diskutiert, die mit der Infragestellung von Berufung durch gegenwärtige theologische, philosophische und soziologische Überlegungen in Verbindung stehen. Auch wenn R. Berufung als eine Gesamtinterpretation des Menschseins versteht, will er damit die bleibende Fragmentarität von Menschsein nicht in Frage stellen. Berufung ist für ihn auch nichts Statisches, sondern steht in Korrespondenz zum menschlichen Leben als ein unvollendeter Weg, der erst eschatologisch an sein Ziel findet. Auch wenn Berufung Nachfolge Jesu Christi heißt, ist damit kein bloßes Imitieren der Worte und Taten Jesu gemeint. Jeder Berufene muss vielmehr seine persönliche Gestalt und Form der Nachfolge finden. Wichtig erscheint mir auch R.’ Gedanke für das Kennzeichen der Echtheit einer Berufung, dass sie den Berufenen nicht ins oberflächlich Eigene, sondern »ins Eigenste« ruft. Dadurch ist sichergestellt, dass Berufungen auch überraschend und ganz anders als erwartet erlebt werden können. Nicht überzeugt hat mich dagegen die Ansicht, dass das Heil – und damit die Berufung eines Menschen – in nichts anderem besteht als dem, was ein Mensch aus sich gemacht hat. Genauso wenig leuchtet mir die Überzeugung ein, dass jede gelebte Berufung – auch die eines Nicht-Christen – wegen der christologischen Prägung jedes Menschen mit Christus selbst verbunden ist. Im Zeitalter der Globalisierung und des Religionspluralismus erscheint mir eine solche Vorstellung geradezu übergriffig.