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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1105–1107

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Scheerlinck, Ryan

Titel/Untertitel:

Gedanken über die Religion. Der »stille Krieg« zwischen Schelling und Schleiermacher (1799–1807).

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2020. XVI, 221 S. = Schellingiana, 31. Kart. EUR 68,00. ISBN 9783772829307.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Unter dem reizvollen Titel, der Schleiermachers Reden über die Religion mit Schellings gedanklichen Bemühungen um Religion verknüpft, widmet sich Ryan Scheerlinck der Frage nach einer wechselseitigen Beeinflussung der beiden Autoren in frühen Jahren ihrer Theoriebildung. Er konkretisiert damit die spekulativ mögliche Alternative in der Auffassung des Absoluten (vgl. Dietrich Korsch, Das doppelte Absolute, NZSTh 35, 1993, 28–56) durch philologisch genaue Rekonstruktion von gegenseitiger Wahrnehmung und Kommentierung. Dafür kommen drei Stationen der literarischen Bezugnahme in Betracht: erstens die Reaktion Schellings auf Schleiermachers Reden anlässlich seiner Kritik an Novalis’ Christenheit oder Europa in dem Gedicht Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Wiederporsts (1799, erst postum vollständig veröffentlicht), sodann Schellings Kritik des Religionsverständnisses Schleiermachers in seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) sowie Schleiermachers Rezension dieser Schrift (1804), drittens die Deutung von Schleiermachers Weihnachtsfeier (1807) als Reaktion auf die Methodenschrift sowie Schellings Kritik an dieser Schrift in seinem impliziten, zu Lebzeiten unveröffentlichten und fragmentarischen Gegenentwurf, dem philosophischen Gespräch Über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt, nach der Bezugsperson des Textes hier und auch sonst als Clara bezeichnet (Verfassungszeitpunkt umstritten).

S.s Unternehmen ist aus zwei Gründen hermeneutisch interessant. Erstens stellt es aus der Perspektive der heutigen Forschung Texte zusammen, die teils veröffentlicht, teils unveröffentlicht, aber dem Adressaten bekannt, teils ganz unbekannt geblieben sind. Es erwächst daraus die Aufgabe, einen Gesprächsfaden zu rekonstruieren, der bewusste Bezugnahmen und Reaktionen mit unbekannt gebliebenen Anstößen zusammenspinnt. Das ist keine einfache Aufgabe, zumal immer wieder Anspielungen zu identifizieren sind, um Bezüge herzustellen. Der zweite Grund liegt in dem Charakter der Texte. Von den beiden Rezensionen abgesehen, bewegen sich die Textproduzenten im Medium »indirekten« Stils; das gilt für Schleiermachers Reden und seine Weihnachtsfeier ebenso wie für Schellings (Hans Sachs imitierendes) Gedicht und seine Clara; auch die Methodenschrift erörtert ja philosophische Probleme im Gewand einer Organisation des Studiums.

Von Novalis’ Christenheit sah sich Schelling »genervt«, würden wir heute sagen; darum der ironische Gegenentwurf im Heinz-Wiederporst-Gedicht. Dem ätherischen Flair von Novalis’ Fragment widersetzt sich der derbe Epikuräismus des Wiederporst. Das sachliche Anliegen dahinter besteht in der Erinnerung daran, dass es der Integration der sinnlich-leiblichen Natur bedarf, wenn von Religion in einem das Leben einschließenden Sinn die Rede sein solle. Im Schatten dieser Trotzreaktion wird dann auch Schleiermacher auf ein innerlich-spirituelles Religionsverständnis festgelegt (I. Der Epikuräer, 1–24).

In gewisser Weise prägt diese Sicht auch die Art und Weise, wie Schelling in der Methodenschrift eine »historische Konstruktion« des Christentums vornimmt. Schleiermachers Zugang zur Reli-gion in den Reden, der über Anschauung und Gefühl die Unmittelbarkeit der Präsenz des Universums verfolgt, wird ein Religionsverständnis entgegengesetzt, welches sich durch den überwundenen Gegensatz auszeichnet, für den die intellektuelle Anschauung einsteht. Es liegt dann in der Logik des Begriffs, dass sich die so, nämlich dialektisch, formatierte Unmittelbarkeit in Differenzen auslegt, deren Aufhebung die Wahrheit des Ganzen affirmiert. Dabei kommt Christus als diejenige Gestalt in den Blick, in welcher sich diese Überwindung vollzieht. Zugleich scheiden sich darüber Polytheismus und Monotheismus. Es ist darum folgerichtig, dass sich Schleiermacher in seiner Rezension gegen die geschichtsphilosophische Konstruktion ausspricht, die die Religion zum weltgeschichtlichen Faktor macht – und sie damit ihrer Eigenart beraubt (II. Der Verkünder, 25–54).

Eine methodisch besonders elegante Interpretation ist Scheerlinck in seiner Analyse der Weihnachtsfeier gelungen. Drei Aspekte lassen sich hervorherben. Erstens kann S. nahelegen, dass Schleiermacher mit seiner poetischen Erzählung auf Schellings Christus-Konstruktion Bezug nimmt; diese Referenz ist mit geradezu detektivischer Genauigkeit herausgearbeitet (obwohl ich darin nicht die einzige Veranlassung der Schrift sehen würde). Zweitens vermag S. die argumentativ-diskursive Situation der Weihnachtsfeier neuartig und überzeugend zu würdigen. Nach seiner Deutung ist es – aufgrund des literarischen Charakters des Textes – nicht sinnvoll, aus den Reden der Protagonisten distinkte theologische Theorien rekonstruieren zu wollen; vielmehr ist mit einer Überlagerung, wie in einem Palimpsest, zu rechnen; das gibt zur Vermutung Anlass, dass sich Schleiermacher selbst nicht mit einem der Redner identifiziert, sondern dass man Aspekte der vorgetragenen Christus-Auffassungen miteinander kombinieren muss, ohne zu einer begrifflichen Einheit zu kommen (85). Die gemeinsame Referenz besteht dann im geschichtlichen Auftreten Jesu, nicht in der Konkurrenz von Christologien. Genau dieser potentielle Pluralismus der Christologien aber gerät in Schellings Kritik. Er beharrt auf einer Deutung Christi als Erlöser, der den Gegensatz von Innen und Außen, Subjekt und Absolutem überwindet – mit weltgeschichtlicher Bedeutung (III. Der gebildete Verächter, 55–86).

Das längste Kapitel des Buches ist der unvollendeten Clara-Erzählung gewidmet (IV. Der Lehrer, 87–195) – nicht ohne Grund. Denn S. beklagt zu Recht die Vernachlässigung der Dialogerzählung in der Schelling-Forschung und vermag sowohl in der Frage der Datierung als auch der systematischen Verortung des Textes plausible Hypothesen zu entwickeln. Seiner Interpretation folgend, ist der Text vergleichsweise früh, nämlich in der Zeit um 1804, entstanden und beschreibt sachlich den Übergang von der Natur in die Geisteswelt. Damit wird ein Grundthema der Schellingschen Philosophie aufgenommen und fortgesetzt, nämlich die Darstellungsformen des Absoluten unter der Chiffre der Natur bzw. des Geistes, die in einen übergangshaften Zusammenhang gebracht werden müssen. Die Pointe des Clara-Gesprächs liegt dann darin, dass dieser Übergang, so sehr er begrifflich und geschichtsphilosophisch konstruiert werden kann und muss, doch realiter von selbst, in einem einfachen Gemüt, sich zu vollziehen hat – und dass dieser Vollzugsort sich als natürliche Volksreligion darstellt, wie sich in der Geschichte Claras erweisen soll.

Doch man versteht gerade aufgrund der minutiösen Analyse S.s auch, warum dieser Text Fragment bleiben musste und zu Lebzeiten Schellings niemals veröffentlicht wurde. Denn es ist wesentlich erst die Idee und Intuition eines solchen Übergangs, die hier thematisiert werden. Im Grunde bedarf es der gesamten Spätphilosophie Schellings in den Gestalten der Philosophie der Mythologie und der Philosophie der Offenbarung, um das früh gesteckte Ziel einigermaßen genau zu realisieren. Als eröffnender Hinweis dieser Probleme ist Clara nun durch S.s Deutung dem Gesamtprogramm Schellings plausibel eingeordnet.

Allerdings überrascht bei den Ausführungen Schellings selbst, wie wenig konkret seine Auffassung von Religion überhaupt bleibt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, es sei die Religion doch wesentlich aufgerufen, um Probleme der Philosophie des Absoluten zu bewältigen. Auch, vielleicht gerade deshalb, beharrt Schelling auf einer dialektischen Konstruktion der Religion, die sich um den Drehpunkt des Christentums bewegt; ein Interesse an den Erscheinungsweisen der Religion lässt er nicht erkennen.

S. macht sich Schellings Sicht weitgehend zu eigen. Das ist für die Suche nach einem Leitfaden in Schellings Philosophie verdienstlich. Doch dabei folgt S. zu sehr Schellings Sicht auf Schleiermacher, der durchweg als Subjektivist in den Blick kommt. Die Präsenzformeln Schleiermachers, gerade in den Texten dieser Werkepoche, hätten eine noch tiefere Interpretation verdient. Dann würden sich auch Schleiermachers Schlüsselphänomene Anschauung und Gefühl als keineswegs von Dialektik freie Phänomene erweisen, und auch die spätere Zentralstellung des Gefühls würde aus sachlichen Gründen einsichtig.

Der weiteren Debatte um die Auffassung von Religion aus theologischer Perspektive mit philosophischen Konsequenzen und aus philosophischer Sicht mit theologischen Implikaten hat S.s kluge Studie einen Weg gewiesen.