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Ausgabe:

November/2023

Spalte:

1083–1084

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Runesson, Anders

Titel/Untertitel:

Judaism for Gentiles. Reading Paul beyond the Parting of the Ways Paradigm. In collaboration with Rebecca Runesson.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. X, 394 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 494. Lw. EUR 159,00. ISBN 9783161593284.

Rezensent:

Stefan Krauter

Der vorliegende Band führt Veröffentlichungen von Anders Runes-son aus den Jahren 2000 bis 2021 zusammen. Diese wurden überarbeitet und mit neu geschriebenen Kapiteln so ergänzt, dass insgesamt eine fortlaufend lesbare Darstellung entstanden ist. Ein erster Teil (Kapitel 1–4) befasst sich vor allem mit Herangehensweisen an Paulus und hinterfragt kritisch herkömmliche Terminologien wie etwa »Religion«, »Universalismus/Partikularismus«, »Christentum/Judentum« und insbesondere »Parting of the Ways«. Es folgen fünf Studien zu einzelnen Themen der paulinischen Briefe (Kapitel 5–9). Kapitel 10–12 zeichnen den Weg von Paulus bis zum Entstehen des Christentums in der Spätantike nach. Dabei macht der Vf. insbesondere deutlich, dass seines Erachtens in diesem Wandlungsprozess aus dem »Apostolic Judaism« des Paulus etwas anderes, in weiten Teilen Inkompatibles, ja sogar Entgegengesetztes geworden ist, eben »Christentum«. Das abschließende Kapitel 13 bietet Gedanken, wie ein genaueres historisches Bild von Paulus zu einer neuen theologischen Beschäftigung mit Paulus beitragen kann.

Der Vf. ist einer der prominentesten (nord-)europäischen Vertreter des insgesamt noch immer sehr amerikanisch dominierten »Paul within Judaism«-Paradigmas. Der Band bringt die Grund-ideen und -anliegen dieser Forschungsrichtung klar und dezidiert, aber mit erfeulich wenig Polemik auf den Punkt. Es gelingt ihm, Impulse von »Paul within Judaism« zu formulieren, um die man in der Paulusexegese zukünftig nicht herumkommen wird. Das betrifft z. B. die Einsicht, dass Paulus nirgends die bleibende Gültigkeit der Tora für Juden bestreitet und dass das Universalisierungsparadigma der New Perspective seine Idee vom Neben- und Miteinander von Juden und christusgläubigen Nichtjuden nicht zutreffend erfasst. Wichtig ist auch der Anstoß, das zu einfache »Parting of the Ways«-Modell durch eine differenzierte Betrachtung der gleichzeitigen Entstehung des Christentums und des rabbinischen Judentums in der Spätantike abzulösen.

Freilich bleiben auch einige Rückfragen, die weiterer Forschungsdiskussion bedürfen. An erster Stelle beachtet der Vf. wie auch die übrigen Vertreter von »Paul within Judaism« zu wenig, was »within« konkret bedeutet. Welche der vielfältigen und situativen Arten der Befolgung der Tora erwartet Paulus von sich und anderen christusgläubigen oder nicht-christusgläubigen Juden? Und wie hätten andere Juden darauf reagiert? Hätten sie das noch als »within Judaism« akzeptiert oder als illegitim abgelehnt?

Damit hängt zweitens zusammen, dass der Vf. anhand von 1Kor 7,17–24 als Zentrum der paulinischen Gedankenwelt ein »closed-ethnic« Konzept ausmacht. Die Basis des paulinischen Denkens sei, dass alle Menschen in dem Stand bleiben, in dem sie berufen wurden, d.h. insbesondere Nichtjuden oder Juden bleiben, was sie sind. Es ist gewiss verdienstvoll, dass »Paul within Judaism« auf diesen in der traditionellen Paulusdeutung völlig marginalisierten Grundsatz des Paulus hinweist. Aber ist er wirklich der Kern? Wird hier nicht aus einem wichtigen (!) Aspekt »das« Zentrum paulinischen Denkens? Der situative und rhetorische Kontext von 1Kor 7,17–24 wird völlig ausgeblendet, Entwicklungen und Brüche werden übersehen und insgesamt fokussiert die Paulusdeutung auf recht wenige Textpassagen vor allem in Röm und Gal. Dass z. B. 1Thess, wo man diesen Gedanken vergeblich sucht, im Stellenindex beinahe gar nicht vorkommt, ist m. E. kein Zufall.

Dies hängt wiederum drittens mit grundlegenden Konzepten zusammen. Der Vf. schließt sich der wachsenden Strömung an, die behauptet, der Terminus »Religion« sei auf antike Phänomene überhaupt nicht anwendbar. Erst in der Spätantike habe sich das Christentum als Religion entwickelt, die sich ein (fiktives) »Judentum« als Gegenüber geschaffen habe, während die Juden bewusst das Ethnos blieben, das sie waren. Dass man ein modernes Alltagsverständnis von Religion nicht auf die Antike anwenden kann, ist unbestritten. Dass das Christentum sich ein »Judentum« als Negativbild geschaffen hat (und noch immer nicht davon losgekommen ist), auch. Aber dass das entstehende Christentum kein völlig neues Phänomen sui generis ist, sondern Teil einer breiteren Ausdiffe-renzierung von Religion in der Antike, sieht der Vf. selbst, wenn er z. B. auf Mysterienkulte eingeht. Doch diese werden in der reli- gionswissenschaftlichen Forschung längst nicht mehr als Sonderfall behandelt, sondern als Teil des insgesamt breiten Spektrums antiker Religion(en). Insgesamt scheint die Paulusforschung (obwohl sie sich ja in Teilen dezidiert nicht als theologisch versteht) von der antiken Religionsgeschichte und ihren Theoriebildungen isoliert. Wo z. B. der Gewinn liegt, wenn man stark abwertende emische Begriffe wie »pagans« wieder in die etische Beschreibungssprache aufnimmt, erschließt sich mir nicht. Ebenso wenig leuchtet mir ein, warum der Vf. zustimmend Paula Fredriksens hochproblematische, in weiten Teilen unzutreffende Charakterisierung antiker Religion als »the gods run in the blood« zitiert (282).

Schließlich: Wie fast alle Vertreter neuer Paulusperspektiven setzt der Vf. die traditionelle Paulusexegese mehr oder weniger mit Martin Luther gleich. Das ist bei einem Skandinavier verständlich, aber trotzdem (zumal aus reformierter Perspektive) irritierend. Die Geschichte der Paulusauslegung ist lang und sehr vielfältig. Wer sich die Mühe macht, neben Luther auch z. B. Calvin oder unbekanntere Reformatoren zu lesen oder gar in die Welt der mittelalterlichen Exegese einzutauchen, wird sehen, dass manche »neue« Auslegung von Paulustexten in Wirklichkeit ziemlich alt sein kann.

Alle diese Anfragen zeigen freilich, dass der Vf. an Kernpunkte des Verständnisses der paulinischen Briefe rührt. Es ist zu hoffen, dass er damit eine breite Rezeption findet und für die weitere his-torische und theologische Debatte wichtige Anstöße gibt.