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Ausgabe:

Oktober/2023

Spalte:

988-990

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bedford-Strohm, Heinrich, Bubmann, Peter, Dallmann, Hans-Ulrich, u. Torsten Meireis [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Kritische Öffentliche Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. 289 S. = Öffentliche Theologie, 42. Kart. EUR 48,00. ISBN 9783374072002.

Rezensent:

Martin Hailer

Wolfgang Huber, dem »protestantischen Chefethiker« (Peter Bubmann, 275) ist das Buch zum 80. Geburtstag gewidmet, herausgegeben von vier ehemaligen Doktoranden – eine prospektive Mitherausgeberin musste sich aus dem Team zurückziehen – und mit Beiträgen von Autorinnen und Autoren aus der akademischen Schule, wissenschaftlicher und kirchlicher Weggemeinschaft versehen. Das Titelthema wird von den meisten der Beiträge zum Gegenstand gemacht und mit eigenen Akzenten versehen. Teil I des Werkes fokussiert auf das Konzept der Öffentlichen Theologie und seiner tragenden Elemente, Teil II bietet Fallstudien materialer Ethik die sich auf sie berufen.

Teil I: Gleich der erste Aufsatz von Torsten Meireis ist eine informative Skizze des Huber’schen Projekts Öffentlicher Theologie, materialreich und nicht ohne kritisch-weiterführende Fragen. Einige der weiteren Aufsätze beziehen sich ebenfalls direkt auf dieses Projekt, so die von Heinrich Bedford-Strohm, Florian Höhne und Christine Schließer. Heinrich Bedford-Strohm, der u. a. auf Johannes Fischers Kritik am Konzept der Öffentlichen Theologie in kirchenleitender Praxis (zeitzeichen 2016, 43–45) eingeht, wählt – kaum überraschend – die kirchliche Unterstützung der Seenotrettung im Mittelmeer als Konkretion und stellt die selbstkritische Frage, wie dies Engagement vor dem Eindruck klerikaler Bevormundung bewahrt werden kann. Das schmälert das Plädoyer für eine christozentrische Interpretation der lutherischen Rede von den zwei Reichen und Regierweisen Gottes jedoch nicht. Frederike van Oorschot befragt das Konzept Öffentliche Theologie auf die neuen digitalen Öffentlichkeiten hin und zeigt damit ein Feld auf, das über diese ersten Erkundungen hinaus gewiss noch der Aufmerksamkeit bedarf. Auch andere Beiträge, etwa von Dirk J. Smit und Willem Fourie, affirmieren die Idee einer Öffentlichen Theologie in Wolfgang Hubers Bahnen. Hans Joas benennt Elemente einer Theorie, die moralischen Universalismus mit der unvermeidlichen partikularen Verwurzelung von Einzelnen und Gruppen verbindet. Dieses Spannungsfeld nimmt der politikwissenschaftlich-philosophische Einspruch gegen den öffentlich-theologischen Konsens des Bandes auf: Rainer Forst diagnostiziert im theologischen Theorieangebot eine grundlegende Spannung. Zwar besteht Öffentliche Theologie auf einem streng universalistisch angelegten Würdebegriff: Alle Menschen, gleich welcher Herkunft und welchen (Nicht-)Glaubens, sind Würdeträger. Aber um »diese Einsicht in die universale moralische Geltung zu haben, bedarf es dieses spezifischen Glaubens und Gottesverständnisses« (57). Diese Spannung kehrt im öffentlichen Diskurs wieder: Die Rechtsordnung eines Gemeinwesens – das ist unstrittig – muss weltlichen Charakter haben. Daneben erkennt Forst aber die Pflicht der Übersetzung einer eigenen religiösen Überzeugung in öffentliche moralisch-politische Gründe. Wer in einer Sache die eigene Überzeugung nicht hinreichend in öffentlich-moralische Gründe übersetzen kann, muss tolerant werden. Kantisch (und mit Habermals) plädiert Frost für ein »Vernunftvermögen öffentlicher Rechtfertigung« (61) – es hätte nicht geschadet, wenn die Herausgeber zur expliziten Auseinandersetzung mit dieser den ansonsten vorherrschenden Konsens des Bandes herausfordernden Position aufgefordert hätten.

Teil II: Stärker den Charakter eines Albums haben die nun folgenden Beiträge. Hans-Richard Reuters Erwägungen zu Fragen internationalen Rechts wurden kurz vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verfasst, büßen angesichts seiner aber kein bisschen von ihrer Aktualität ein. Er stellt Realismus (zweckrationale Staatsklugheit, de facto »Macht vor Recht«) dem in kirchlichen Verlautbarungen oft anzutreffenden Idealismus (Recht als Mittel der Machtbegrenzung) gegenüber und sucht Wege, letzteren zu differenzieren, u. a. mit Erwägungen, in welchen Fällen Nothilfe angemessen sein könnte, auch wenn sie mit dem Völkerrecht kollidiert. Wer sich auf Recht beruft, beruft sich eo ipso auf eine universalistische Sicht. Peter Dabrock erläutert neue Möglichkeiten der medizinischen Therapie unter Zuhilfenahme Künstlicher Intelligenz und erläutert die damit einhergehenden Dilemmata, etwa das, enorme Fortschritte in der diagnostischen Kompetenz nur durch Zugriff auf riesige persönliche Datenmengen erhalten zu können. Welche Eingriffe in persönliche Rechte werden durch das – realistische – Versprechen von Leidvermeidung und Heilung gerechtfertigt? Von Christian Polke, im April 2023 völlig überraschend verstorben, ist wohl einer der letzten Aufsätze zu lesen. In Anlehnung an und Auseinandersetzung mit Gustav Radbruch legt er eine kleine »öffentlich-theologische Vorschule der Rechtsethik« vor (189). Deren wesentliche Elemente sind nach Polke erstens die Unterscheidung von Öffentlichem und Privatem, zweitens das Recht und seine die Freiheit schützende Aufgabe und drittens die Unvermeidlichkeit auch pluraler und konfliktuöser Settings. Es ist sehr bedauerlich, dass es bei diesen Andeutungen bleiben muss und die Ausarbeitung – zumal sie sich kritisch und konstruktiv auf Wolfgang Hubers Rechtsethik bezogen hätte (191) – nicht mehr wird erscheinen können.

Weitere Beiträge schreiten kirchliche Handlungsfelder ab: So informiert Ruth Gütter über die EKD-Position in Sachen Nachhaltigkeit, Gotlind Ulshöfer nennt wichtige Stichworte und Kategorien für eine theologische Wirtschaftsethik, und Günther Bauer fragt nach der Transformation Öffentlicher Theologie in Öffentliche Diakonie. Es folgen: Christina-Maria Bammel über Kirchenleitung, Eva Harasta über das Konzept »Ökumene der Profile«, Hans-Ulrich Dallmann zur Migrationsdebatte, Susanne Edel über Öffentlichkeit in der Pfarramtsausbildung und Joachim von Soosten über ein an Søren Kierkegaard geschärftes Konzept endlicher Freiheit.

Den Band beschließt eine Kurzvorstellung Peter Bubmanns zu dem von ihm in einigen Publikationen entworfenen Konzept christlicher Lebenskunst. Die Frage, ob Wolfgang Huber dieses Konzept zu zeitgeistig und womöglich zu unkritisch finden würde, stellt er, geht aber nicht mehr in die explizite Auseinandersetzung.

Ist Wolfgang Huber das Epitheton des »protestantischen Chefethikers« überhaupt recht – und ist es angemessen? Wie immer hier zu entscheiden ist: Der Einblick in die Resonanzstärke seiner jahrzehntelangen Verantwortung in wissenschaftlicher Theologie und Kirchenleitung ist beeindruckend.